Lernpfad 1: Basiswissen
Geschlecht und Gesundheit
Lernmodul 3: Intergeschlechtlichkeit Basics
Bearbeitungsdauer ca. 15-20 Min.
1. Erste Schritte & Lernziele
Dieses Modul bietet einen Einstieg, um sich als Fachkraft in der Gesundheitsversorgung mit Intergeschlechtlichkeit zu befassen. Im nachfolgenden Lernpfad 2 findet sich ein weiteres Lernmodul zu „Intergeschlechtlichkeit“, das auf diesem Modul aufbaut.
Lernziele:
- Intergeschlechtlichkeit bezeichnet Variationen der Entwicklung von körperlichen geschlechtlichen Merkmalen.
- Intergeschlechtlichkeit ist ein Sammelbegriff, der unterschiedlich definiert wird. Intergeschlechtlichkeit ist eher selten – die Schätzung des Anteils intergeschlechtlicher Menschen in der Bevölkerung hängt davon ab, wie Intergeschlechtlichkeit definiert wird.
- Verbände von intergeschlechtlichen Menschen setzen sich dafür ein, dass Intergeschlechtlichkeit in der Medizin nicht länger als „Erkrankung“ oder „Störung“ angesehen wird.
2. Variationen körpergeschlechtlicher Merkmale
Menschliche Körper und Geschlecht
Die Körper von Menschen variieren in den Ausprägungen verschiedener Merkmale, die als zum körperlichen Geschlecht zugehörig betrachtet werden. Körper sind dabei variabler, als es die Geschlechterkategorien sind, in die sie eingeteilt werden.
Neben und jenseits einer als typisch weiblich oder als typisch männlich angesehen Entwicklung gibt es ein Spektrum an angeborenen Variationen dieser körpergeschlechtlichen Merkmale. Man spricht hier auch von Variationen der körperlichen Geschlechtsentwicklung (Ghattas et al., 2015).
Intergeschlechtlichkeit als Oberbegriff
Intergeschlechtlichkeit ist ein Oberbegriff für die Variationen körperbezogener geschlechtlicher Merkmale. Intergeschlechtliche Menschen besitzen angeborene körperliche Merkmalsausprägungen, die nicht oder nicht nur der Vorstellung von weiblichen oder männlichen Körpern entsprechen (Ghattas et al., 2015). Unter körpergeschlechtlichen Merkmalen werden insbesondere die Gonaden (Ovarien, Hoden) und damit verbunden die hormonelle Situation gefasst sowie die Genetik und die äußeren Genitalien.
Dabei kann sich eine Variation sowohl auf ein einzelnes Merkmal beziehen als auch eine Kombination von Merkmalen betreffen. Die Intergeschlechtlichkeit von Menschen kann an verschieden Zeitpunkten in ihrem Leben erkennbar werden. Bei manchen inter* Menschen ist es direkt nach der Geburt deutlich, bei anderen erst ab der Pubertät oder noch später im Leben. Einige Menschen sind in diesem Sinne intergeschlechtlich, aber erfahren es nie (Böhm et al., 2022).
Intergeschlechtlichkeit als affirmativer sozialer Begriff
Intergeschlechtlichkeit ist kein medizinischer, sondern ein gesellschaftlicher Begriff. Intergeschlechtlichkeit drückt aus, dass Variationen der körpergeschlechtlichen Entwicklung genauso in das natürliche und gesunde Spektrum von Körpern fallen wie eine „typisch männliche“ oder „typisch weibliche“ körperliche Entwicklung.
Der Begriff soll einen Beitrag dazu leisten, affirmative Gesundheitsversorgung zu leisten: Gesundheitsversorgung, die Menschen in ihrem geschlechtlichen „So Sein“ unterstützt.
Wie viele Menschen sind inter*?
Die Free & Equal Initiative der Vereinigten Nationen geht von einem Anteil zwischen 0,05 % bis 1,7 % inter* Personen an der Bevölkerung aus (UN, 2018). Hochgerechnet auf die Bundesrepublik Deutschland sind das zwischen 41.000 und knapp 1,4 Millionen Menschen.
Die große Spannbreite ergibt sich daraus, dass es keine einheitliche Definition von Intergeschlechtlichkeit gibt. Je nachdem, wie eng oder weit der Begriff gefasst wird, ergeben sich sehr verschiedene Bevölkerungsanteile.
Mögliche Variationen der körpergeschlechtlichen Entwicklung (In Anlehnung an: Scientific American, 2022)
Was ist Intergeschlechtlichkeit?
Charlotte Wunn spricht über Intergeschlechtlichkeit.
3. Sprache und Kommunikation
Bitte setzen Sie sich mit der folgenden Frage auseinander.
Affirmative Sprache
Dieses Selbstlernangebot nutzt die Abkürzung inter* oder die Begriffe Intergeschlechtlichkeit und intergeschlechtlich, um eine affirmative Haltung auszudrücken.
Der Begriff Intergeschlechtlichkeit / intergeschlechtlich ist aus der Menschenrechtsbewegung entstanden und gilt als neutraler und nicht-wertender Begriff für Menschen mit angeborenen Variationen der Geschlechtsmerkmale (Ghattas et al. 2015: 15). Auch das Adjektiv inter* gilt als neutrale Bezeichnung dafür, mit einer Variation der körperlichen Geschlechtsmerkmale geboren zu sein. Der Stern (Asterisk) bei inter* steht dabei für die Heterogenität intergeschlechtlicher Lebensrealitäten und verschiedener Körperlichkeiten (ebd.).
Der Begriff Variationen beschreibt in einem positiven Sinn die Unterschiede, die zwischen unterschiedlichen Individuen auftreten können. In einem negativen Sinn kann der Begriff Variation jedoch auch als (Norm-)Abweichung verstanden werden (Ghattas et al. 2015: 18). Um dies zu vermeiden, können Sie die Begriffe Intergeschlechtlichkeit/intergeschlechtlich und inter* verwenden.
Nicht alle nutzen diese Begriffe für sich selbst
Eine Reihe von Menschen, die in diesem Sinne intergeschlechtlich sind, nutzen diesen Begriff nicht für sich selbst.
Im medizinischen Kontext oder auch in ihrem allgemeinen Leben bevorzugen manche Menschen Bezeichnungen für ihre körperliche Situation, die als Diagnose für ihre körperliche Variation genutzt wird. Auch dies muss respektiert werden und sollte im Patient*innen- und Klient*innenkontakt berücksichtigt werden.
Geschlechtliche Selbstbezeichnungen
Inter* und intergeschlechtlich haben zudem eine doppelte Bedeutung: Zunächst stellen sie für einige einen affirmativen Ausdruck für die eigene Körperlichkeit dar, darüber hinaus werden sie auch als Begriff für eine subjektive geschlechtliche Identifizierung verwendet. Manche inter* Menschen identifizieren sich auch im Sinne einer geschlechtlichen Selbstbezeichung als inter*, haben also eine geschlechtliche Identität als inter* Mensch (Ghattas et al. 2015). Andere inter* Personen bezeichnen ihr Geschlecht als männlich, weiblich, nicht-binär, trans oder mit weiteren, anderen Begriffen aus dem Spektrum geschlechtlicher Identitäten.
Kommunikation hilft
Da es nicht möglich ist, die Worte zu erraten oder zu erschließen, die Menschen für sich selbst verwenden, ist es wichtig, diese zu erfragen. In der praktischen Gesundheitsversorgung hängt es viel von der jeweiligen Situation ab, wie dies respektvoll geschehen kann. Die Vertraulichkeit gegenüber Dritten ist dabei unbedingt zu beachten. Am Anmeldeschalter z.B. sind oft andere Patient*innen anwesend, was das Sprechen über sensible Themen sehr begrenzt. Eine Möglichkeit kann hier sein, mit offenen Fragen im Anmeldebogen ein wichtiges Signal der Offenheit zu vermitteln, um dann im vertraulichen Setting nochmals auf die Antworten zurückzukommen.
4. Intergeschlechtlichkeit in der Medizin
Intergeschlechtlichkeit als gesellschaftlicher Begriff
Intergeschlechtlichkeit ist kein medizinischer, sondern ein gesellschaftlicher Begriff.
In der Medizin existiert eine Vielzahl von Fachbegriffen für verschiedene körperliche Situationen. Variationen der körpergeschlechtlichen Entwicklung werden auch im aktuellen ICD 11 (International Classification of Diseases, 11. Revision) als Abweichung von der Norm und damit als krankheitswertige Störung angesehen.
Chicago Consensus Meeting
Seit dem sogenannten „Consensus Meeting“ in Chicago wird im medizinischen Bereich nicht mehr vom medizinischen Terminus „intersex“ (übersetzt: intersexuell), sondern von DSD, also „Disorders of Sex Development“ oder „Differences of Sex Development“ gesprochen (Hughes et al. 2006). Ins Deutsche wird das Akronym zumeist mit „Störungen der Geschlechtsentwicklung“ bzw. „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ übersetzt.
Beide Bezeichnungen werden jedoch von Interessenvertretungen und etlichen inter* Aktivist*innen als pathologisierend abgelehnt. Heute werden von diesen die Begriffe „Variationen der körpergeschlechtlichen Entwicklung“ oder Intergeschlechtlichkeit empfohlen.
In dem 2006 veröffentlichten Consensus-Papier werden die körperlichen, chromosomalen und hormonellen Situationen benannt, die aus medizinischer Perspektive als DSD gelten (Hughes et al. 2006). Die Klassifikation wurde auch in die AWMF-Leitlinien zur Versorgung von „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ (Krege et al. 2016, derzeit in Überarbeitung) übernommen. Diese Klassifikation auf der Grundlage des Chicagoer Consensus-Papiers ist jedoch auch unter Fachpersonen immer wieder in der Diskussion und umstritten.
Forderung nach Entpathologisierung
Bereits seit den 1990er Jahren setzen sich inter* Personen und Verbände verstärkt für ein Ende der pathologisierenden Betrachtungsweise ein, dass ihre Körper an sich eine „Störung“ darstellen würden. Hierauf und auf die teils gravierenden Folgen der Pathologisierung geht ein Lernmodul im Lernpfad 2 nochmals genauer ein.
5. Lernziele & Modulabschluss
Intergeschlechtlichkeit, inter* und Variationen der körpergeschlechtlichen Entwicklung stellen affirmative Begriffe dar.
Nicht alle inter* Menschen verwenden diese Begriffe für sich selbst. Für eine gute Kommunikation ist es wichtig, die Worte zu erfragen, mit denen sich Menschen selbst bezeichnen.
Lernziele:
- Intergeschlechtlichkeit bezeichnet Variationen der Entwicklung von körperlichen geschlechtlichen Merkmalen.
- Intergeschlechtlichkeit ist ein Sammelbegriff, der unterschiedlich definiert wird. Intergeschlechtlichkeit ist eher selten – die Schätzung des Anteils intergeschlechtlicher Menschen in der Bevölkerung hängt davon ab, wie Intergeschlechtlichkeit definiert wird.
- Verbände von intergeschlechtlichen Menschen setzen sich dafür ein, dass Intergeschlechtlichkeit in der Medizin nicht länger als „Erkrankung“ oder „Störung“ angesehen wird.
Bitte setzen Sie sich mit der folgenden Frage auseinander.
Sehen Sie sich Ihre Einschätzung in Abschnitt 3 (Sprache und Kommunikation) nochmals an – hat sich Ihre Einschätzung durch das mittlerweile Gelesene verändert oder ist sie gleichgeblieben?
Quellenangaben
Böhm, Luca/Kromminga, Ins A/Matthigack, Ev Blaine: Inter*. Eine kurze Einführung. Herausgegeben von Internationale Vereinigung Intergeschlechtlicher Menschen – OII Germany e. V. Berlin. https://oiigermany.org/wp-content/uploads/2022/10/Inter-EineKurzeEinfuehrung-IVIM-OIIDE-2022-web.pdf [letzter Zugriff am: 25.01.2023]
Ghattas, Dan Christian/Kromminga, Ins A/Matthigack, Ev Blaine/Mosel, Es Thoralf/ und weitere Inter*, die nicht namentlich genannt werden möchten (2015): Inter* & Sprache – Von „Angeboren“ bis „Zwitter“. Eine Auswahl inter*relevanter Begriffe, mit kritischen Anmerkungen vom TrIQ-Projekt „Antidiskriminierungsarbeit & Empowerment für Inter*“. Herausgegeben vonTransInterQueer-Projekt „Antidiskriminierungsarbeit und Empowerment für Inter*“. 1. Auflage. Berlin. https://oiigermany.org/wp-content/uploads/InterUndSprache_A_Z.pdf. [letzter Zugriff am: 25.01.2023]
Hughes, I. A./Houk, C./Ahmed, S. F./Lee, P. A./ LWPES1/ESPE2 Consensus Group (2006): Consensus statement on management of intersex disorders. In: Archives of Disease in Childhood 91, H. 7, S. 554–563. DOI 10.1136/adc.2006.098319. [letzter Zugriff am: 25.01.2023]
Krege, Susanne/Eckoldt, Felicitas/Richter-Unruh, Annette (2016): S2k-Leitlinie Varianten der Geschlechtsentwicklung. Herausgegeben von Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie (DGKCH); Deutsche Gesellschaft für Urologie (DGU); Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie (DGKED). 1. Version. Berlin. https://www.aem-online.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/S2k_Geschlechtsentwicklung-Varianten_2016-08_01_1_.pdf. [letzter Zugriff am: 25.01.2023]
United Nations for LGBT Equality, Office of the High Commissioner. „Fact Sheet Intersex“. Herausgegeben von United Nations for LGBT Equality, Office of the High Commissioner. https://www.unfe.org/wp-content/uploads/2017/05/UNFE-Intersex.pdf. [letzter Zugriff am: 25.01.2023]