Lernpfad 1: Basiswissen
Geschlecht und Gesundheit

Lernmodul 2: Konzepte von Geschlecht

Bearbeitung ca. 15-20 Min.


Dieses Lernmodul vertieft das Wissen darüber, dass Geschlecht als Oberbegriff für verschiedene Aspekte und Dimensionen des menschlichen Lebens verwendet wird.

Lernziele:

  1. Geschlecht umfasst verschiedene Aspekte und Dimensionen des menschlichen Lebens.
  2. Einige Aspekte und Dimensionen von Geschlecht können individuell unterschiedlich ausgeprägt sein. Man spricht deshalb auch von Heterogenität (Diversität) von Geschlecht.
  3. Eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung muss Geschlecht angemessen berücksichtigen.

Bitte setzen Sie sich mit den folgenden Fragen aus­ein­ander.

Inwiefern spielen soziale und körperliche Aspekte von Geschlecht in Ihrem Arbeitsfeld in der Gesundheits­versorgung eine Rolle? Beispielsweise bei den Menschen, die Ihnen als Klient*innen oder Patient*innen begegnen? Welche Bedeutung hat Ihre eigene geschlechtliche Situation für die Arbeit, die Sie leisten?
Bitte klicken Sie auf „Weiter“, wenn Sie sich mit der Frage auseinander­gesetzt haben.

Dimensionen und Aspekte von Geschlecht

In dieser Selbstlernumgebung wird Geschlecht als Oberbegriff für verschiedene Dimensionen und Aspekte verwendet. Diese Aspekte können sich auf die körperliche Situation beziehen und auch auf soziale und kulturelle Dimensionen des menschlichen Lebens.
In einigen Diskussionen wird zwischen „sex“ (aus dem Englischen), den körperlichen Aspekten von Geschlecht, und „gender“, den sozialen Aspekten von Geschlecht unterschieden. Körperliche Aspekte werden häufig als angeboren, unveränderlich und stabil angesehen – doch das greift vielfach zu kurz, um die Komplexität von Geschlecht im menschlichen Leben zu erfassen.

Körperliche Aspekte von Geschlecht

Zu den körperlichen Aspekten, die mit Geschlecht in Verbindung gebracht werden, gehören insbesondere die chromosomale und hormonelle Situation einer Person sowie die Ausprägung ihres Genital- und Fortpflanzungssystems. Eine Vorannahme hier ist, dass das sogenannte biologische Geschlecht eine Aussage darüber erlaube, welche körperlichen Möglichkeiten eine Person im weiteren Leben hinsichtlich der menschlichen Fortpflanzung (z.B. Schwangerschaft) habe.
So wird bei Neugeborenen das äußere Genitale betrachtet und dann anhand des Aussehens auf das sog. biologische Geschlecht geschlossen („sex“). Diese Zuordnung stellt die Grundlage dar für den Eintrag des Geschlechts im Personenstandsregister nach der Geburt: weiblich, männlich, divers (bzw. der Geschlechtseintrag bleibt offen).

Viele körpergeschlechtliche Aspekte können sich im Lebenslauf verändern

Oft werden diese körpergeschlechtlichen Aspekte als angeboren und dauerhaft gleichbleibend angesehen. Die Situation stellt sich jedoch bei näherer Betrachtung differenzierter dar: Etliche körpergeschlechtliche Aspekte verändern sich im Laufe des Lebens, z. B. im Rahmen von Pubertät und Wechseljahren oder auch durch allgemeine Alterungsprozesse des menschlichen Körpers. Viele der heute erwachsenen intergeschlechtlichen Menschen, deren Variation der körpergeschlechtlichen Entwicklung im Kindesalter medizinisch wahrgenommen wurde, mussten die Erfahrung machen, dass ihr Körper z.B. chirurgisch ohne ihre Zustimmung verändert wurde. Darüber hinaus kann es auch im Rahmen von Erkrankungen oder Unfällen zu Situationen kommen, in denen Menschen Organe verlieren, die für ihre körpergeschlechtliche Situation von Bedeutung sind. Auch sind manchmal Medikamente erforderlich, die in die hormonelle Situation einer Person eingreifen, z.B. bei Krebstherapien.
Manche Personen nutzen auf eigenen Wunsch medizinische Maßnahmen, um ihre körpergeschlechtliche Situation oder auch damit verbundene weitere körperliche Funktionen zu verändern. Dies können beispielsweise Hormone sein. Zu denken ist hier zum Beispiel an die sog. Anti-Baby-Pille, also Medikamente, um nicht schwanger zu werden.
Insbesondere etliche transgeschlechtliche Menschen nutzen Hormontherapien oder andere Maßnahmen, um ihren körperlichen Ausdruck an den von ihnen gewünschten körperlichen Ausdruck anzugleichen. Dies können z.B. chirurgische Eingriffe wie der Aufbau eines männlich bzw. weiblich wirkenden Brustprofils sein oder auch genitalchirurgische Maßnahmen und Veränderungen an Stimmlage oder Bartwuchs. In diesem Fall werden diese Eingriffe als „geschlechtsangleichende Maßnahmen“ bezeichnet.

Gesellschaftliche Diskussionen um Geschlecht

Antke Antek Engel erklärt Geschlecht als facettenreichen Ausdruck menschlicher Existenz und geht auf den Begriff der geschlechtlichen Selbstbestimmung ein.

Rechtliches Geschlecht

Mit rechtlichem Geschlecht ist die Erfassung des Geschlechtseintrags im Personenstandsregister gemeint. Vor 2013 gab es ausschließlich die beiden Möglichkeiten, das Geschlecht als „männlich“ oder als „weiblich“ einzutragen. Seit 2013 besteht für intergeschlechtliche Menschen die Möglichkeit, den Geschlechtseintrag offen zu lassen. Und seit 2018 ist zudem der Geschlechtseintrag „divers“ möglich.

Inter* Personen und Personenstand

Die beiden letztgenannten Möglichkeiten – Eintrag „divers“ und Geschlechtseintrag offen lassen – richten sich insbesondere an Personen mit Varianten der körpergeschlechtlichen Entwicklung, also an inter* Personen bzw. im Falle von Kindern an deren Eltern. Inter* Personen können auf der Grundlage dieser gesetzlichen Regelung auch eine nachträgliche Änderung bzw. Korrektur ihres Vornamens und Geschlechtseintrages erwirken. Darüber hinaus können inter* Personen selbstverständlich auch die Geschlechtseinträge „männlich“ bzw. „weiblich“ haben.

Transgeschlechtliche Personen und Personenstand

Inwiefern diese neueren Regelungen im Personenstandsgesetz auch transgeschlechtliche Menschen betreffen (insofern sie nicht auch gleichzeitig inter* sind), ist Gegenstand von juristischen Diskussionen. Seit 1981 gilt in Deutschland das sogenannte Transsexuellengesetz, das „Gesetz über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen“, kurz: TSG. Einige Regelungen dieses TSG wurden im Lauf der Zeit außer Kraft gesetzt und aktuell gibt es Gesetzesinitiativen, das TSG durch eine umfassendere rechtliche Regelung zu ersetzen.

Das TSG bietet seit 1981 die Möglichkeit für trans Personen, Vornamen und rechtliches Geschlecht an ihr Identitätsgeschlecht angleichen zu lassen. Ursprünglich war ein Wechsel von „männlich“ zu „weiblich“ und umgekehrt vorgesehen. Sprachlich ist dabei darauf zu achten, dass immer das Geschlecht der eigenen Selbstbezeichnung benannt wird: Eine trans Frau (manchmal auch: Transfrau) ist eine Frau, deren früheres rechtliches Geschlecht z.B. männlich war. In älteren Texten findet sich gelegentlich auch Mann-zu-Frau-Transsexuelle als Begriff. Entsprechendes gilt für trans Männer (manchmal auch: Transmänner).

Inzwischen kann auf Antrag auch der Geschlechtereintrag divers oder kein Geschlechtereintrag als Personenstand eingetragen werden, dies ist aber eigentlich nicht durch das TSG und durch die Änderungen des Personenstandsrechts, die auf inter* Personen zielte, vorgesehen. Erst ein Urteil des Bundesgerichtshofs vom 22.04.2020 und weitere juristische Diskussionen darüber öffneten den Weg auch für trans Personen (BGH-Beschluss vom 22.04.2020 – XII ZB 383/19). Aktuell (Stand: Anfang 2023) befasst sich der Bundesgesetzgeber mit einer Neuregelung der als rechtlich unklar kritisierten Situation.

Die Änderung von Vornamen und Personenstand nach dem Transsexuellengesetz erfordert zwei psychologische Gutachten und wird von Betroffenen als belastend und fremdbestimmt kritisiert. Zudem ist das Verfahren mit Kosten verbunden, die selbst zu tragen sind.

Wofür wird der Eintrag des Personenstandes benötigt? (Stand Anfang 2023)

Julia Zinsmeister erläutert die Funktionen des Personenstandsregisters und die aktuell darin möglichen Geschlechtseinträge.

Was denken Sie zu folgender Aussage:

Wie häufig haben Sie in Ihrer Tätigkeit im Gesundheitswesen Kontakt mit inter- und oder transgeschlechtlichen Klient*innen bzw. Patient*innen?

Bitte schieben Sie den Regler auf die für Sie passende Position. Sie können die Lerneinheit nur abschließen, wenn Sie den Regler bewegt haben.

Dimensionen von Geschlecht

Neben der körperlichen Situation und dem rechtlichen Personenstand gibt es weitere Dimensionen und Aspekte von Geschlecht, die für die gesundheitliche Situation von Bedeutung sein können.

Die geschlechtliche Selbstbezeichnung bzw. Selbstidentifikation

Es gibt unterschiedliche Selbstbezeichnungen und Identifizierungen bezogen auf das eigene Geschlecht. Die meisten Menschen verwenden eine Selbstbezeichnung – und sei es, dass sie sich in dieser Selbstbezeichnung davon abgrenzen, sich geschlechtlich zu verorten.
Das eigene Wissen um die und die Wahrnehmung der eigenen Geschlechtlichkeit kann sich im Zuge des Lebens verändern.
Die verfügbaren Begriffe und Konzepte hängen vom gesellschaftlichen Kontext ab. Und auch, wie Begriffe und Bezeichnungen verstanden werden und welche Bedeutungen sie jeweils haben, wird sozial ausgehandelt. Diese Selbstbezeichnungen sind bedeutsam, da sie Menschen ermöglichen, über sich selbst zu sprechen. Dabei kann es vorkommen, dass verschiedene Menschen denselben Begriff unterschiedlich verwenden und verstehen.
Für Gesundheitsfachkräfte ist es deshalb wichtig, zum einen die Selbstbezeichnung zu hören und – falls von Bedeutung – auch danach zu fragen. Zum anderen sollte von der Selbstbezeichnung nicht auf andere Dimensionen von Geschlecht, z.B. auf die körperliche Verfasstheit eines Menschen geschlossen werden. Nicht alle Männer haben eine Prostata, nicht alle Frauen haben einen Uterus – und das trifft nicht nur für einige inter* oder trans Personen zu, sondern auch für etliche Menschen, die weder inter* oder noch trans sind.

Das von Dritten wahrgenommene Geschlecht

Die geschlechtliche Selbstbezeichnung und auch das rechtliche oder körperliche Geschlecht können von dem Geschlecht, das Dritte wahrnehmen, abweichen (Sauer 2015: 121). Menschen ordnen Personen in ihrem Umfeld zumeist unbewusst und automatisiert aufgrund bestimmter Wahrnehmungsmuster einem Geschlecht zu. Oder sie zeigen sich irritiert, wenn sie diese Zuordnung nicht vermeintlich eindeutig vornehmen können.
Für die medizinische Versorgung ist es deshalb wichtig zu erkennen, dass zentrale Informationen über die geschlechtliche Situation eines Menschen nur von diesem selbst erfahren werden können. Man sieht Menschen ihre geschlechtliche Situation nicht an – oder kann sich zumindest sehr dabei täuschen.

Der geschlechtliche Ausdruck

Die meisten Menschen haben (oder suchen) eine „geschlechtliche Komfortzone“ und zeigen einen Körperausdruck und Verhalten, das ihnen einen Raum öffnet, in dem sie mit sich und in der jeweiligen Gesellschaft leben können. Vieles im Leben wird mit Geschlechterzuschreibungen belegt, z.B. Kleidung, Schminken, Spielzeug, Sportarten, Essverhalten, die Art, sich zu bewegen, bis hin zur Frage der Berufswahl und persönlichen Interessen.
Viele Menschen verhalten sich teils geschlechtskonform mit dem, was die Umgebung von ihnen erwartet – und teils verhalten sie sich geschlechtsnonkonform dazu.
Dieses Selbstlernangebot vertritt die Ansicht, dass es nicht die Aufgabe der Gesundheitsversorgung ist, den geschlechtlichen Ausdruck von Menschen zu regulieren, geschlechtsnonkonformes Verhalten abzuwerten oder Menschen dafür zu beschämen. Menschen verdienen Respekt in ihrem Selbstausdruck.

Gesellschaftliche Geschlechterordnungen

Geschlechterverständnisse und Geschlechterverhältnisse sind veränderbar. Dies haben verschiedene soziale Bewegungen eindrucksvoll gezeigt.
Geschlecht strukturiert vielfach gesellschaftliche Rangordnungen, Rollenverteilungen und sozioökonomische Aufstiegsmöglichkeiten, das Einkommen und die gesellschaftliche, politische und ökonomische Teilhabe.
Auch der Zugang zur Gesundheitsversorgung ist eine soziale Ressource, in der Geschlecht eine Rolle spielt.

Die nachfolgende Grafik gibt einen Überblick über verschiedene Dimensionen von Geschlecht, die in der heutigen Gesellschaft und für die medizinische Versorgung relevant erscheinen

Wie geht die medizinische Forschung mit der Komplexität von Geschlecht um?

Die medizinische Forschung greift zunehmend Gender als Thema auf, so Sabine Oertelt-Prigione. Die quantitativen Ansätze der medizinischen Forschung stehen dabei vor spezifischen Herausforderungen, die Dimensionen von Geschlecht zu erfassen.

Geschlecht umfasst verschiedene Dimensionen und Aspekte des Lebens. Für eine gute Gesundheitsversorgung ist es wichtig, Patient*innen und Klient*innen als Gesamtes als Person zu sehen. Gleichzeitig muss bedacht werden, dass nicht bei allen Menschen alle Dimensionen von Geschlecht zu jedem Zeitpunkt im Leben miteinander übereinstimmen.
Die wichtigste Quelle zum Verständnis der Situation im Sinne einer qualitativ hochwertigen Versorgung stellt vielfach die Patient*in oder Klient*in selbst dar.

Lernziele:

  1. Geschlecht umfasst verschiedene Aspekte und Dimensionen des menschlichen Lebens.
  2. Einige Aspekte und Dimensionen von Geschlecht können individuell unterschiedlich ausgeprägt sein. Man spricht deshalb auch von Heterogenität (Diversität) von Geschlecht.
  3. Eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung muss Geschlecht angemessen berücksichtigen.

Dennert, Gabriele (2022): Dimensionen von Geschlecht. Vortrag, Fachhochschule Dortmund.

Sauer, Arn Thorben (2015): Gutachten: Begrifflichkeiten, Definitionen und disziplinäre Zugänge zu Trans- und Intergeschlechtlichkeiten. Unter Mitarbeit von Laura Adamietz, Juana Remus, Heinz-Jürgen Voß, Adrian de Silva, Annette Güldenring, Uta Schirmer et al. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) (2015). Begleitforschung zur Interministeriellen Arbeitsgruppe Inter- & Transsexualität, Band 1. Online verfügbar unter https://www.bmfsfj.de/blob/93956/d73e830e237b752dd4ef323a8432e1ba/geschlechtliche-vielfalt-data.pdf (Zuletzt: 19.01.2023)