Lernpfad 2: Aufbauwissen
Geschlecht und Gesundheit

Lernmodul 2: Intergeschlechtlichkeit Vertiefung

Bearbeitungsdauer ca. 15-20 Min.


Dieses Modul geht – aufbauend auf den Inhalten des Lernpfades 1 – auf den Personenstand und die gesundheitliche Situation von inter* Menschen ein.

Lernziele:

  1. Inter* Menschen können – neben weiblich und männlich – im Personenstandsegister „divers“ eintragen lassen oder den Geschlechtseintrag offen lassen.
  2. Einige inter* Menschen haben medizinische Eingriffe an ihrem Körper erlebt, denen sie nicht zugestimmt haben, und die teils dauerhafte Folgen für ihr Leben und ihre Gesundheit haben.
  3. Es gibt Beratungsstellen und Unterstützungsangebote für inter* Personen und deren Angehörige.

Intergeschlechtlichkeit und Personenstandsbezeichnung

Im Geburtenregister, das Teil des Personenstandsregisters ist, werden in Deutschland Angaben zur Person hinterlegt. Diese sind die Vor- und Nachnamen des Kindes sowie der Eltern und der Ort und Zeitpunkt der Geburt. Darüber hinaus wird auch ein Geschlechtseintrag für das Kind dokumentiert.
Vor dem Jahr 2013 gab es in Deutschland nur zwei Möglichkeiten für den Geschlechtseintrag: weiblich und männlich. Seit 2013 kann für intergeschlechtliche Personen der Geschlechtseintrag offen gelassen werden. Seit 2018 ist zudem der Eintrag „divers“ für intergeschlechtliche Menschen möglich.

Personenstand „divers“ als „dritte Option“

Langjähriger Aktivismus insbesondere von inter* Personen hat dazu geführt, dass der Geschlechtseintrag mittlerweile offen bleiben kann und auch „divers“ als dritte Option einer geschlechtlichen Bezeichnung im Personenstandsregister möglich ist. Zudem wurde es rechtlich ermöglicht, das intergeschlechtliche Menschen ihren Vornamen vergleichsweise unkompliziert ändern können, wenn sie dies wünschen.

„Dritte Option“ – kein „Drittes Geschlecht“

Manchmal kommt es vor, dass Intergeschlechtlichkeit als „drittes Geschlecht“ verstanden wird, weil es mit „divers“ nun eine dritte Bezeichnung des rechtlichen Geschlechts gibt. Hier handelt es sich jedoch um eine Verwechslung: Der Sammelbegriff „Geschlecht“ mit seinen vielen Dimensionen wird mit der Dimension des „rechtlichen Geschlechts im Personenstandsregister“ gleichgesetzt.
Die heterogenen sozialen, identitätsbezogenen und auch geschlechtskörperlichen Lebensrealitäten von Menschen mit dem Personenstand „divers“ lassen sich jedoch nicht zu einem dritten Geschlecht zusammenfassen. Mit dem Begriff „dritte Option“ wird deutlich gemacht, dass es einen weiteren positiven Geschlechtseintrag neben dem männlichen oder weiblichen gibt und dass intergeschlechtliche Menschen in der Gesellschaft repräsentiert sind.

Änderung des Personenstands für inter* Menschen

Damit Personen ihren Personenstand im Rahmen der angesprochenen Regelungen ändern können, benötigen sie derzeit eine ärztliche Bescheinigung, die ihnen „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ attestiert. Die ärztliche Bescheinigung muss nicht die jeweilige Diagnose umfassen. In Ausnahmen kann auf das ärztliche Attest verzichtet werden, wenn die Personen eine eidesstattliche Versicherung über ihre Variation(en) der Geschlechtsmerkmale abgeben.
Dieses Verfahren wurde von vielen Interessenvertretungen stark kritisiert, da die Entscheidung über die Änderungen des Personenstands im Prinzip nach wie vor nicht bei den Personen selbst liegt. Außerdem wird eine Änderung des Personenstandes gemäß dieser Regelung ausschließlich von körperlichen Faktoren abhängig gemacht.
Darüber hinaus ist dieses Verfahren auch Gegenstand juristischer Debatten. Aktuell (Anfang 2023) arbeitet der Gesetzgeber an einer Initiative für ein sogenanntes „Gesetz zur geschlechtlichen Selbstbestimmung“, das auch dieses Verfahren neu regeln soll.

Wie ist die rechtliche Situation hinsichtlich der Personenstände bei inter* Personen? (Stand Anfang 2023)

Julia Zinsmeister erklärt die aktuelle rechtliche Situation für inter* Personen hinsichtlich des Personenstandes im Personenstandsregister (Stand Anfang 2023).

Eingriffe an inter* Menschen ohne deren Zustimmung

In der Humanmedizin gelten die „typischen“ körperlichen Entwicklungen von männlichen und weiblichen Körpern nach wie vor als die Norm. Intergeschlechtliche körperliche Merkmale hingegen werden als „Abweichung“ von dieser Norm und damit als „Störung“ angesehen. Diese Pathologisierung kann gravierende Folgen für inter* Menschen haben, wenn medizinische Eingriffe nur mit dem Ziel erfolgen, ihren Körper an die Normvorstellungen von männlichen bzw. weiblichen Körpern anzupassen.

Bei manchen intergeschlechtlichen Dispositionen kann es erforderlich sein, medizinische (auch: chirurgische) Maßnahmen durchzuführen, um das Leben zu erhalten und die gesundheitliche Situation zu verbessern. Etliche heute erwachsene inter* Menschen haben jedoch Eingriffe erlebt, denen sie nicht zugestimmt haben, aufgrund ihres Alters nicht zustimmen konnten oder über deren Folgen sie nicht oder unzureichend aufgeklärt worden waren.

Das „Baltimorer Behandlungskonzept“

Die Annahme, Menschen mit gesunden intergeschlechtlichen Körpern bedürften einer Behandlung bzw. eines Eingriffs, basiert im 20. Jahrhundert insbesondere auf dem sog. „Baltimorer Behandlungskonzept“. Danach richtete sich die Medizin etwa ab den 1950er Jahren aus. Man war der Auffassung, dass Kinder sich dann optimal in ihrer geschlechtlichen Identität entwickeln, wenn sie möglichst früh einem Geschlecht, also männlich oder weiblich, zugewiesen würden und das Aussehen ihrer Genitale an diese Normen angepasst würde (Krämer/Sabisch, 2018). Dies hatte mitunter schwerwiegende und unnötige Operationen an Kindern bereits im Säuglingsalter zur Folge, um sie körperlich zu „vereindeutigen“.

Nachrangig war in dieser Vorstellung die körperliche und psychische Integrität, das körperliche Potential zur sexuellen Lustempfindung sowie die Fertilität von intergeschlechtlichen Menschen (Krämer/Sabisch, 2018: 4).

Nicht-konsensuelle Eingriffe

Von inter* Verbänden und Interessenvertretungen werden Eingriffe kritisiert, die dazu dienen, Menschen an das körperliche Erscheinungsbild von „weiblich“ bzw. „männlich“ anzupassen (Intersexuelle Menschen e.V., 2008).

Hierzu zählen u.a. Entfernung von Gonaden oder Operationen am Genitale und einige Hormonbehandlungen. Als Menschenrechtsverletzungen eingestuft werden Veränderungen am äußeren Genitale, die ausschließlich der Konstruktion eines Genitals dienen, das zweigeschlechtlichen Normvorstellungen entspricht. Hierzu zählen z.B. die Entfernung von Teilen der Klitoris oder die Anlage einer Neovagina. Umstritten unter medizinischen Fachkräften und abgelehnt von inter* Verbänden sind Eingriffe wie die Entfernung von im Bauchraum liegenden Gonaden (Intersexuelle Menschen e.V., 2008).

Manche inter* Personen erhalten im Laufe ihres Lebens eine Hormonbehandlung, wenn Hormone eingesetzt werden sollen, die z.B. aufgrund bestimmter anatomischer, hormoneller oder stoffwechselbedingter Situationen nicht im Körper produziert werden. Teilweise sind diese Therapien erforderlich, weil den Personen bereits früher Gonaden entfernt worden sind. Da all diese vorgenannten Eingriffe die gesunden Körper von Menschen verändern, spricht man in diesem Zusammenhang von geschlechtsverändernden Eingriffen (Intersexuelle Menschen e.V., 2008; Hoenes et al., 2019).

Schutz von inter* Kindern seit 2021

Seit 2021 verbietet ein „Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung“ bestimmte Operationen und andere medizinische Maßnahmen an inter* Kindern. Verboten ist, was nur der Angleichung an ein weibliches oder männliches Normgeschlecht dient.
Nach wie vor umstritten ist jedoch, welches Kind eine „Variante“ bzw. Variation der geschlechtlichen Entwicklung hat und demnach vor geschlechtsverändernden Operationen geschützt wird und welches Kind am Genitale operiert wird, da es vermeintlich eindeutig als Mädchen oder Junge klassifiziert wurde und damit vom Gesetz nicht geschützt wird.

Welche Menschenrechtsverletzungen haben einige inter*Menschen in der Medizin erlebt?

Sandrao Mendig spricht über Menschenrechtsverletzungen an inter* Personen in der Medizin in Deutschland.

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Gesundheitsversorgung von erwachsenen Menschen

Zur gesundheitlichen Situation von inter* Kindern und Jugendlichen gibt es viel mehr zu sagen, als wir hier abbilden können. Die Erfahrungen, die junge Menschen mit der Gesundheitsversorgung machen (mussten), können ihr Verhältnis zum Gesundheitswesen für das gesamte weitere Leben prägen.

Um sich mit diesen Erfahrungen von jungen inter* Menschen zu beschäftigen und die Forderungen von inter* Verbänden hierzu nachvollziehen zu können, empfehlen wir Ihnen, sich bei Interessenvertretungen und Verbänden zu informieren.

Um Interessenverbände und Vertretungen zu finden, öffnen Sie in Ihrem Browser einen neuen Tab oder ein neues Fenster und suchen Sie im World Wide Web z.B. nach folgenden Begriffen:

  • Intergeschlechtliche Menschen e.V.
  • Organization Intersex International Europe OII
  • AWMF Leitlinie Intergeschlechtlichkeit
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Gesundheit fördern heißt Selbstbestimmung fördern

Gesundheitsförderung im Sinne der Ottawa Charta der Weltgesundheitsorganisation (WHO 1986) bedeutet Förderung von Autonomie und Selbstbestimmung über den eigenen Körper und die eigene Gesundheit. Vor dem Hintergrund möglicher negativer Vorerfahrungen von inter* Menschen mit der medizinischen Versorgung erscheint dies besonders wichtig.

Mögliche Folgen von negativen Versorgungserfahrungen

Nicht alle inter* Menschen haben die oben dargestellten schwerwiegenden Eingriffe erlebt. Für diejenigen, die sie erleben mussten, können die Folgen weitreichend sein. Die körperlichen Konsequenzen können irreversibel sein, wenn z.B. Organe ganz oder teilweise entfernt wurden.
Die Interviewstudie des Projektes InTraHealth (2020) zeigte, dass solche Eingriffe zu schweren psychischen Belastungen und körperlichen Beeinträchtigungen führen können. Geschildert wurden z.B. Unfruchtbarkeit, teils schmerzhafte Vernarbungen, Verlust der Sensitivität im Genitalbereich, Osteoporose und Probleme im Bereich der ableitenden Harnwege (Harnröhre). Hinzu kommen psychosoziale Folgen wie Auswirkungen auf soziale Kontakte, das eigene Körperbild, die Schullaufbahn und darauf aufbauend die berufliche Situation.

Verzögern und Vermeiden der Inanspruchnahme der Gesundheitsversorgung

Auch inter* Personen, die als Kinder oder Jugendliche keine bedeutsamen negativen Erfahrungen mit der medizinischen Versorgung gemacht haben, berichteten von Versorgungssituationen, die sie als diskriminierend oder negativ erlebt haben. In der InTraHealth-Studie zeigte sich ein Zusammenhang zwischen diesen negativen Erfahrungen und einem Verhalten bei der Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen, das als „avoidance“ (Vermeidung) und „delay of care“ (Verzögern) bezeichnet wird: Menschen nehmen die notwendige Gesundheitsversorgung im Bedarfsfall verzögert oder gar nicht in Anspruch (Klocke 2021).

Fragen Sie Ihre Patient*innen und Klient*innen, was diese sich wünschen

Die Teilnehmenden der InTraHealth-Studie wünschten sich vor diesem Hintergrund insbesondere, dass die Versorgung und insbesondere körperliche Untersuchungen transparent kommuniziert werden und sie explizit in Entscheidungen eingebunden werden. Das bedeutet auch, dass etliche Patient*innen und Klient*innen erfahren möchten, wenn Sie selbst eventuell unsicher sind und Fragen haben. Gesundheitsfachkräfte signalisieren durch diesen respektvollen Umgang, dass sie Autonomie und Expertise von Patient*innen und Klient*innen im Umgang mit ihrem Körper anerkennen. Dies hilft, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen (Klocke 2021).

Welche Bedeutung können Vorerfahrungen haben?

Beratungsstellen und inter* Organisationen

Beratungsstellen, Interessenvertretungen und Verbände von und für inter* Menschen leisten einen wichtigen Beitrag zu Empowerment, Partizipation und Lebensqualität und damit zur Förderung der Gesundheit für intergeschlechtliche Menschen und deren Angehörige und ihr soziales Umfeld. Einige Organisationen bieten zudem auch Fort- und Weiterbildungen für Gesundheitsfachkräfte und interessierte Menschen an.

Vernetzungswissen und Verweisungswissen

Es ist nicht erforderlich und auch oft nicht möglich, in allen Angeboten immer auf dem neuesten Stand zu sein, um Klient*innen und Patient*innen im Bedarfsfall angemessen weiterverweisen zu können oder sich selbst zu informieren.
Das vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geförderte Regenbogenportal – zu finden unter www.regenbogenportal. de – enthält eine durchsuchbare Datenbank zu Angeboten für LSBQTI*-Personen. Sie finden dort auch Hinweise auf Fortbildungsangebote für Fachkräfte verschiedener Berufsgruppen.

Bitte recherchieren Sie zu den folgenden Aspekten.

Bitte öffnen Sie in Ihrem Browser einen neuen Tab oder ein neues Fenster und besuchen Sie die Website des Regenbogenportals. Welche Beratungsmöglichkeiten für inter* Menschen finden Sie, die bundesweit oder sogar in Ihrer Region arbeiten?
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Das Personenstandsrecht wurde 2013 (offener Geschlechtseintrag) und 2018 (Personenstand „divers“) reformiert, um den Bedarfen von inter* Menschen besser Rechnung zu tragen.
Etliche heute erwachsene inter* Menschen haben bereits in Kindheit und Jugend Pathologisierungen in der medizinischen Versorgung erlebt. Eine der Herausforderungen heute besteht darin, diese Pathologisierungen zu beenden und eine qualitativ hochwertige, gesundheitsfördernde Versorgung zu leisten.

Lernziele:

  1. Inter* Menschen können – neben weiblich und männlich – im Personenstandsegister „divers“ eintragen lassen oder den Geschlechtseintrag offen lassen.
  2. Einige inter* Menschen haben medizinische Eingriffe an ihrem Körper erlebt, denen sie nicht zugestimmt haben, und die teils dauerhafte Folgen für ihr Leben und ihre Gesundheit haben.
  3. Es gibt Beratungsstellen und Unterstützungsangebote für inter* Personen und deren Angehörige.

Hoenes, Josch/Januschke, Eugen/Klöppel, Ulrike/Sabisch, Katja (2019): Häufigkeit normangleichender Operationen „uneindeutiger“ Genitalien im Kindesalter. Follow Up‐Studie. Herausgegeben von der Prodekanin der Fakultät für Sozialwissenschaft, Professur für Gender Studies, Ruhr- Universität Bochum. Bochum: Universitätsbibliothek Bochum. DOI 10.13154/RUB.113.99. [letzter Zugriff am: 25.01.2023]

Intersexuelle Menschen e.V./XY-Frauen (2008): Schattenbericht zum 6. Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland zum Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau (CEDAW). Herausgegeben von Intersexuelle Menschen e.V. Hamburg. DOI 10.5771/9783845216119-273 [letzter Zugriff am: 25.01.2023]

Klocke, Rebecca (2021): Ein gemeinsames Ziel: Bedarfe bezüglich der Verbesserung der allgemeinen Gesundheitsversorgung von inter* und trans Personen aus Versorger*innen und Nutzer*innen Perspektive [Videovortrag]. Herausgegeben von Projekt InTrahealth und Fachhochschule Dortmund. Dortmund. https://wissensportal-lsbti.de/portfolio-item/ein-gemeinsames-ziel-bedarfe-bezueglich-der-verbesserung-der-allgemeinen-gesundheitsversorgung-von-inter-und-trans-personen-aus-versorger-innen-und-nutzer-innen-perspektive/
[letzter Zugriff am: 25.01.2023]

Krämer, Anike/Sabisch, Katja (2018): Inter*: Geschichte, Diskurs und soziale Praxis aus Sicht der Geschlechterforschung. In: Kortendiek, Beate/Riegraf, Birgit/Sabisch, Katja (Hrsg.): Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. S. 1–10. DOI 10.1007/978-3-658-12500-4_78-1 [letzter Zugriff am: 25.01.2023]

World Health Organization WHO. „Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung, 1986“. https://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0006/129534/Ottawa_Charter_G.pdf [letzter Zugriff am: 25.01.2023]