Lernpfad 2: Aufbauwissen Geschlecht und Gesundheit

Lernmodul 5: Inter* und trans Menschen in der allgemeinen Gesundheitsversorgung

Bearbeitung ca. 15-20 Min.


Dieses Modul geht auf grundlegende Aspekte ein, die für eine akzeptierende Gesundheitsversorgung von inter* und trans Menschen von Bedeutung sind: Grundwissen zur ihrer gesundheitlichen und gesellschaftlichen Situation sowie fachliche und psychosoziale Kompetenz. In den letzten beiden Abschnitten erfahren Sie etwas über die spezifische Situation von inter* und trans Menschen im Alter.

Lernziele:

  1. Es gibt Hinweise auf spezifische gesundheitliche Herausforderungen für inter* und trans Menschen, die wesentlich mit ihren Erfahrungen in der Gesellschaft zusammenhängen.
  2. Sowohl fachliche als auch psychosoziale Kompetenzen auf der Seite der Gesundheitsfachkräften helfen, Barrieren im Versorgungszugang für geschlechtlich non-konform lebende Menschen abzubauen.
  3. Inter* und trans Menschen im Alter stellen in der Gesundheitsversorgung eine besonders vulnerable Gruppe dar.

Gesundheit von inter* und trans Menschen in Deutschland

Bisher sind belastbare Aussagen zum Gesundheitszustand von inter* und trans Menschen in Deutschland im Vergleich zur restlichen Bevölkerung nicht möglich. Solche Vergleiche erfordern, dass in großen bevölkerungsrepräsentativen Studien Daten erfasst werden, anhand derer sich geschlechtliche Heterogenität differenzierter abbilden lässt. Auch muss eine ausreichende Anzahl von Angehörigen geschlechtlicher Minderheiten an diesen Studien teilnehmen.
Beides ist aktuell in Deutschland nicht gegeben.

Der InTraHealth-Survey

Die Entwicklung dieser Lernplattform hat sich deshalb wesentlich auf internationale Studien und auf die Befunde der eigenen InTraHealth-Studie gestützt. In der InTraHealth-Studie wurden inter* und trans Menschen in Deutschland mittels qualitativen Interviews und einem Online-Survey befragt.

Im Online-Survey gaben erwachsene inter* und trans Menschen aus Deutschland Auskunft zu Gesundheit, Gesundheitsverhalten, sozialer Situation, Inanspruchnahme der Gesundheitsversorgung und ihren Erfahrungen damit. Die Fragebogen von 578 Personen, davon 10 % inter*, wurden in die Auswertung einbezogen. Die Teilnehmenden stammten aus dem gesamten Bundesgebiet. Sie waren zwischen 18 und 78 Jahren alt. Im Mittel lag das Alter bei knapp 34 Jahren, die Hälfte der Teilnehmenden war 29 Jahre oder jünger, was bedeutet: Es war insgesamt ein eher jüngeres Sample.

Der InTraHealth-Survey enthält keine Vergleichsgruppe aus der übrigen Bevölkerung, sondern ermöglicht allenfalls einen Vergleich zwischen Subgruppen innerhalb der Befragung.

Die Befragung fand im Sommer 2020, also im ersten Sommer der Sars-CoV-2-Pandemie statt. An einigen Stellen wurden deshalb Aussagen sowohl zur aktuellen Situation als auch zur Situation ein Jahr vor der Befragung (= vor der Pandemie) erhoben.

Wie war der Gesundheitszustand der Befragten?

Erinnern Sie sich an die Frage, die Sie selbst im vorherigen Lernmodul beantwortet haben – „Wie würden Sie Ihren gegenwärtigen Gesundheitszustand beschreiben?“
In der InTraHealth-Studie gaben 44 % als Antwort „sehr gut“ oder „gut“. Zum Vergleich: In der bevölkerungsrepräsentativen GEDA-Befragung aus den Jahren 2019/2020 beurteilten 70 % der Allgemeinbevölkerung ihren Gesundheitszustand als „sehr gut“ oder „gut“ (Heidemann et al., 2021)

Bei aller Vorsicht in der Interpretation eines solchen Vergleiches: Es stellt sich die Frage, inwiefern der Gesundheitszustand von inter* und trans Personen anders – in einigen Aspekten: schlechter – sein könnte als der der übrigen Bevölkerung. Zumal wenn bedenkt, dass bei der InTraHealth-Studie eher jüngere Menschen mitgemacht haben. Der subjektive Gesundheitszustand ist bei jüngeren zumeist besser als bei älteren Leuten.

Auch bei anderen gesundheitlichen Kenndaten zeigten sich Differenzen zwischen der InTraHealth-Befragung und der Allgemeinbevölkerung: Laut GEDA-Studie hat knapp die Hälfte der Bevölkerung eine chronische Erkrankung (Heidemann et al., 2021) – in der InTraHealth-Studie waren es zwei Drittel (66 %) der Befragten.
Knapp 13 % der InTraHealth-Befragten hat eine Schwerbehinderung (Grad der Behinderung 50 und höher). Laut Statistischem Bundesamt (2022) sind es in der Allgemeinbevölkerung etwas über 9 %, die eine Schwerbehinderung haben.

Nochmals mehr gesundheitliche Belastungen bei inter* Menschen?

Bei einem Vergleich innerhalb der InTraHealth-Befragten zwischen inter* und trans Teilnehmenden zeigte sich: Inter* Befragte hatten z.B. häufiger eine chronische Erkrankung oder eine Schwerbehinderung als trans Befragte.

Es muss hier (aus methodischen Gründen der Befragung) offen bleiben, inwiefern diese gesundheitlichen Beeinträchtigungen auch Folgen der medizinischen Interventionen sind, die inter* Menschen aufgrund der Medikalisierung und Pathologisierung ihres Körpers erleben mussten. Die Befürchtung, dass es auch die Medizin selbst war, die bei den Befragten daran beteiligt war, ihre Gesundheit dauerhaft zu beeinträchtigen, liegt jedoch nahe.

Die häufigsten Beschwerden in der InTraHealth-Studie

Den Studienteilnehmenden wurde eine Liste mit 28 Erkrankungen und Beschwerdebildern vorgelegt. Gefragt wurde, welche sie in den letzten 12 Monaten vor der Befragung hatten und welche jemals in ihrem Leben ärztlich diagnostiziert worden waren.
Die nachfolgende Abbildung zeigt die häufigsten körperlichen und psychischen Beschwerden, die die Teilnehmenden für das Jahr vor der Befragung berichteten.

Im Vordergrund standen Schmerzen, insbesondere des muskuloskelettalen Systems, und psychische Erkrankungen. Auch Allergien waren häufig. Hinsichtlich der allgemeinen Gesundheitsversorgung sei hier besonders auf die hohe Prävalenz von depressiven Störungen und Essstörungen hingewiesen.



Häufige Beschwerden in den letzten 12 Monaten. Daten aus: InTraHealth-Survey, 2020, Projekt InTraHealth.

Allgemeine Gesundheitsversorgung: eine inter* Perspektive

Charlotte Wunn spricht über Erfahrungen als inter* Mensch in der Gesundheitsversorgung und betont, wie wichtig es für alle Gesundheitsfachkräfte ist, über ein Grundwissen zu inter* und trans Anliegen zu verfügen.

Gesundheit wird gemeinschaftlich hergestellt

Sie haben im vorangegangenen Lernmodul gelesen, dass die Weltgesundheitsorganisation in der Ottawa-Charta Gesundheit als etwas definiert, was „von Menschen in ihrer alltäglichen Umwelt geschaffen und gelebt [wird]: dort, wo sie spielen, lernen, arbeiten und lieben“ (WHO, 1986).
Im Sinne dieses Verständnisses von Gesundheit wurden in der InTraHealth-Studie auch soziale Aspekte erhoben.

Soziale Netzwerke – Hinweise zur Sozialanamnese

Die meisten Befragten hatten mindestens eine nahestehende Person in ihrem Leben, auf die sie sich verlassen können, wenn sie ernste Probleme haben. Sie fühlten sich in ihren sozialen Netzwerken gut aufgehoben. Ungefähr die Hälfte lebte in einer Form von partnerschaftlicher Beziehung. Ein relevanter Anteil davon lebte in mehreren partnerschaftlichen Beziehungen. Die Studie hat nicht weiter gefragt, jedoch könnten dies offene Beziehungen oder auch polyamore Beziehungen sein.

Eine Frage in der Sozialanamnese wie „Sind Sie verheiratet?“ wird der Vielschichtigkeit gegenwärtiger partnerschaftlicher Verhältnisse also nicht gerecht. Hingegen scheint es empfehlenswert, in der Sozialanamnese offen zu fragen und das zu erheben, was für die Gesundheitsversorgung von Bedeutung ist.
Wenn es darum geht, zu erfahren, ob der oder die Patient*in nach der stationären Entlassung versorgt ist, dann könnte eine Frage entsprechend lauten: „Wenn Sie hier nach der Operation entlassen werden: Gibt es jemanden, der sich um Sie kümmert und zum Beispiel für Sie einkaufen würde?“

Wenn es darum geht, eine Vertrauensperson zu einem Gespräch hinzuzuziehen:„Wenn morgen die Befunde vorliegen, können wir die Situation und das weitere Vorgehen miteinander besprechen. Gibt es jemanden, den Sie bei diesem Gespräch mit dabeihaben möchten?“

Jede 8. bis 20. Person fühlte einen Mangel an sozialen Ressourcen

Mehr als 13 % (n=64) der InTraHealth-Befragten sahen es als schwierig an, praktische Hilfe aus ihrem Umfeld zu erhalten, wenn sie diese benötigten. Etwa 7 % (n=42) fühlten sich nicht gut aufgehoben in ihren sozialen Netzwerken. Und jeder zwanzigste Mensch gab an, im Notfall überhaupt keine nahestehende Vertrauensperson zu haben.

Wie sich Versorgung und Forschung verändern

Die Praxis der medizinischen Versorgung von Angehörigen geschlechtlicher Minderheiten ändert sich. Es entsteht mehr Offenheit, mehr Vertrauen in der Versorgung – und dies kann helfen, Forschungs- und Wissenslücken zukünftig zu schließen.

Zur beruflichen Situation – eine trans Perspektive

Annette Güldenring, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, und Andrea Jüsgen, Beamtin, sprechen als Frauen mit Transitionsgeschichte über gute und schlechte Erfahrungen im Arbeitsleben.

Notwendigkeit gewalterfahrungssensibler Gesundheitsversorgung

In der InTraHealth-Studie wurde nach Verletzungen gefragt (körperlich oder seelisch/psychisch), die die Teilnehmenden durch Gewalt oder Diskriminierung im Vorjahr erlebt hatten. Hierbei wurde nach Folgen von jeglicher Gewalt und Diskriminierung insgesamt gefragt. Psychische Verletzungen hatten 61 %, körperliche Verletzungen knapp 7 % durch Gewalt und Diskriminierung im Vorjahr erlebt. Viele suchten, auch wenn es erforderlich gewesen wäre, die Gesundheitsversorgung in diesen Situationen nicht auf – hierzu mehr in einem der nachfolgenden Abschnitte.

Die Zahlen deuten darauf hin, dass Gewalt und Diskriminierung weit verbreitet sind. Entsprechend muss die Möglichkeit bestehender Gewalterfahrungen in der Versorgung grundsätzlich in Betracht gezogen werden. Von entsprechenden Konzepten gewalterfahrungssensibler Versorgung profitieren alle Betroffenen, auch inter* und trans Personen.

Subjektives Sicherheitsgefühl

Eine mögliche Folge von Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen ist ein beeinträchtigtes subjektives Sicherheitsgefühl.

In der InTraHealth-Befragung gaben 7 % an, sich in ihrer eigenen Wohnung eher nicht oder überhaupt nicht sicher zu fühlen. Wenn sie draußen unterwegs sind, fühlten sich in ihrem Wohnumfeld 14 % eher nicht oder überhaupt nicht sicher.

Die InTraHealth-Studie hat nicht weiter gefragt, wodurch das Sicherheitsgefühl beeinträchtigt wird. Grundlegend besteht die Möglichkeit, dass vergangene und antizipierte Gewaltsituationen das Sicherheitsgefühl beeinträchtigen. Und es besteht die Möglichkeit, dass im häuslichen Umfeld eine aktuelle Bedrohungssituation besteht.

Screening nach Gewaltsituationen

In einigen Ambulanzen und Notaufnahmen wird bei der Aufnahme von neuen Patient*innen bereits routinemäßig nach aktuellen Bedrohungs- und Gewaltsituationen gescreent. Zum Einsatz kommen beispielsweise Fragekombinationen wie „Weiß jemand, dass Sie hier sind?“, „Darf jemand nicht wissen, dass Sie hier sind?“ und „Gibt es in Ihrer Umgebung jemanden, der Ihnen Unbehagen oder Angst bereitet?“. (Beiu, 2022)

Personen, die auf eine der beiden letztgenannten Fragen mit „ja“ antworten, werden nach der Aufnahme im stationären Setting und einer dann geschützteren Umgebung erneut angesprochen, um den Verdacht zu klären, dass sie aktuell von Gewalt betroffen sein könnten.

Das Einführen von Screening-Maßnahmen zu aktuellen Bedrohungs- und Gewaltsituationen erfordert eine institutionelle Bereitschaft und Schulungsmaßnahmen für das Personal. Dies kann nicht im Alleingang Einzelner geschehen, denn Patient*innen, die sich in Screening-Fragen öffnen, dürfen damit im Nachhinein nicht alleine gelassen werden.

Für Institutionen, die diesen Weg gehen, ist davon auszugehen, dass auch inter* und trans Patient*innen davon profitieren könnten, wenn deren Situation in den Schulungsmaßnahmen ebenfalls berücksichtigt wird.

Nicht alle nutzen die Versorgungsangebote

Sie haben im letzten Abschnitt erfahren, dass ein relevanter Anteil der Befragten in der InTraHealth-Studie im Vorjahr körperliche bzw. psychische Verletzungen durch Gewalt und Diskriminierung erfahren hat. Und nicht alle, die deswegen Krankenversorgung benötigt haben, haben diese dann auch in Anspruch genommen.

Bei körperlichen Verletzungen wird dies besonders deutlich: 24 Personen hatten körperliche Verletzungen erlitten, die sie als so schwerwiegend betrachteten, dass sie eine Krankenversorgung für notwendig erachtet hätten – doch lediglich ein Drittel hat auch medizinische Hilfe aufgesucht. Zwei Drittel (n=16) haben dies nicht getan.

Bei psychischen Verletzungen infolge von Gewalt und Diskriminierung ist das Bild ähnlich: Knapp die Hälfte derjenigen, die medizinische bzw. therapeutische Versorgung benötigt hätten, habe diese nicht aufgesucht.

„Non Use“ und „Delay of Care“: Vermeiden und Verzögern

Das Nicht-Nutzen (Non Use) und die verzögerte Inanspruchnahme (delay of care) von Versorgungsleistungen im Bedarfsfall ist bereits bei etlichen sozial diskriminierten Gruppen beschrieben worden: sexuelle Minderheiten wie Lesben oder Schwule, von Rassismus betroffene Menschen und eben auch bei geschlechtlichen Minderheiten wie inter* und trans Menschen.

Dies beschränkt sich nicht auf Situationen, die durch Gewalt- oder Diskriminierungserfahrungen entstanden sind, sondern betrifft auch andere Bereiche, wie zum Beispiel die Inanspruchnahme von Früherkennungsuntersuchungen, die zahnärztliche Versorgung oder alle anderen Bereiche der Routine-Gesundheitsversorgung.

So hatten beispielsweise 80 Befragte der InTraHealth-Studie im Vorjahr einen Unfall erlitten, dessen Folgen sie für professionell behandlungsbedürftig hielten. Überwiegend suchten sie die ambulante oder stationäre Versorgung auch auf – ein knappes Fünftel jedoch gab an, die Versorgung bewusst nicht aufgesucht zu haben.

Antizipierte Diskriminierung – Sorge vor Reaktualisierung früherer Erfahrungen

Nach den Gründen hierfür gefragt, berichteten etliche von der Sorge, in der Gesundheitsversorgung diskriminiert zu werden – sei es aufgrund von inter* oder trans Sein, aufgrund der sexuellen Orientierung oder aus rassistischen Motiven. Auch die Befürchtung, dass im Rahmen des Versorgungskontaktes frühere Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen reaktualisiert werden könnten, spielte eine Rolle.

Ein akzeptierendes und offenes Klima in der Versorgung schaffen

Die Befunde der InTraHealth-Studie unterstreichen, dass jede einzelne Erfahrung zählt, die Menschen in der Gesundheitsversorgung machen. Es gilt, ein möglichst offenes, akzeptierendes und sicheres Klima für alle Patient*innen und Klient*innen zu schaffen – damit Menschen, die Unterstützung durch Gesundheitsfachkräfte benötigen, diese auch in Anspruch nehmen.

Wartezimmersituation

Bitte setzen Sie sich mit den folgenden Fragen aus­ein­ander.

Sie sehen hier die Illustration einer Wartezimmersituation. Was sind Ihre Assoziationen dazu? Welche möglichen Schwierigkeiten erkennen Sie in der Situation? Welche Ideen haben Sie, wie die Situation zukünftig für alle Beteiligten verbessert werden könnte?
Bitte klicken Sie auf „Weiter“, wenn Sie sich mit den Fragen auseinandergesetzt haben.

Barrieren im Zugang zur Krebsfrüherkennung

Mechtild Kuhlmann-Weßeling ist Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Ihr fällt auf, dass trans Männer kaum zur Krebsfrüherkennung kommen.

Bitte setzen Sie sich mit den folgenden Fragen aus­ein­ander.

Sie haben gerade die Fachärztin Mechthild Kuhlmann-Weßeling im Video gehört. Ihr ist aufgefallen, dass keine trans Männer zur regelmäßigen Krebsfrüherkennung in ihre gynäkologische Praxis kommen, obwohl sie davon ausgeht, dass der Bedarf durchaus gegeben wäre. Sie vermutet, dass es Barrieren geben könnte, die als zu hoch empfunden würden oder die zu hoch seien.
Was denken Sie dazu? Welche Barrieren könnten bestehen?
Welche Maßnahmen könnten helfen, Barrieren abzubauen, damit auch Angehörige geschlechtlicher Minderheiten z. B. die empfohlene Krebsfrüherkennung nutzen können?
Hinweis: Im ersten Lernpfad im Modul 5 „Bedeutung von Geschlecht“ finden Sie eine Abbildung und Erläuterungen dazu, wie Barrieren den Zugang zur Gesundheitsversorgung einschränken können.
Bitte klicken Sie auf „Weiter“, wenn Sie sich mit den Fragen auseinandergesetzt haben.

Barrieren im Versorgungszugang

Sie wissen bereits aus dem vorrangegangen Lernpfad (Modul 1.5. Bedeutung von Geschlecht), dass nicht alle Menschen gleichen Zugang zur benötigten Gesundheitsversorgung haben. Barrieren im Zugang zur Gesundheitsversorgung können sein:

  • finanziell, z. B. durch fehlenden Versicherungsschutz oder erforderliche Zuzahlungen, aber auch, weil Anfahrtswege zu teuer sind oder zu einem nicht tragbaren Verdienstausfall führen würden,
  • geografisch, z. B. weil in räumlich erreichbarer Nähe keine freien Behandlungsplätze zu finden sind,
  • versorgungsseitig, z. B. durch Defizite in der psychosozialen, kulturellen und fachlichen Kompetenz auf der Seite der Leistungsanbieter*innen, oder wenn bestimmte Leistungen nicht angeboten werden, obwohl die Einrichtung dies könnte (denken Sie bspw. an Schwangerschaftsabbrüche),
  • nutzer*innenseitig, z. B. durch ein bestimmtes Inanspruchnahmeverhalten, wie es weiter oben in diesem Modul als „Non Use“ und „Delay of Care“ beschrieben wurde.

Da nutzer*innenseitige Barrieren oftmals das Ergebnis von Schwierigkeiten auf der Seite von Leistungsanbieter*innen sind oder zumindest dadurch verstärkt werden, ist es wenig erfolgversprechend, primär das Inanspruchnahmeverhalten in den Blick zu nehmen.
Vielmehr lohnt es sich, versorgungsseitige und systemische Zugangsbarrieren abzubauen und Kompetenzen der Einrichtung und der Teams zu stärken.

Barrieren sind ein Gerechtigkeitsproblem

Wenn Menschen im Bedarfsfall keine Gesundheitsleistungen erhalten, kann dies ihre individuelle Gesundheit beeinträchtigen, möglicherweise dauerhaft und schwerwiegend.

Darüber hinaus stellt sich jedoch auch ein gesellschaftliches Problem, denn diese Zugangsbarrieren sind nicht zufällig verteilt: Sie betreffen insbesondere die sozialen Gruppen, die gesellschaftlich ohnehin von Marginalisierung und Diskriminierung betroffen sind und über weniger sozioökonomische Ressourcen verfügen.
Dies sind oftmals die sozialen Gruppen, die auch mehr gesundheitliche Belastungen haben und einen schlechteren Gesundheitszustand aufweisen. Barrieren, die gruppenspezifisch sind, tragen so dazu bei, dass aus sozialen Nachteilen und Ungleichheiten dann gesundheitliche Nachteile und Ungleichheiten werden.

Gruppenspezifische Barrieren stellen ein Gerechtigkeitsproblem der Gesundheitsversorgung und für die Gesellschaft insgesamt dar. Im Sinne des sozialen Zusammenhalts sollten auch diejenigen, die nicht selbst davon betroffen sind, ein Interesse daran haben, gesundheitliche Ungleichheiten abzubauen.

Beispiele für inter*- und transspezifische Barrieren

Es wurden verschiedene inter*- und transspezifische Zugangsbarrieren beschrieben (Safer/Chan, 2019):

  • mangelnder Einbezug des Themas in Studium und Ausbildung in Gesundheitsberufen,
  • sozioökonomische Barrieren für diejenigen, die in ihrer schulischen und beruflichen Laufbahn im Kontext des gesellschaftlichen Umgangs mit ihrer geschlechtlichen Situation und Biografie Brüche erlebt haben,
  • spezielle sozioökonomische und zeitliche Belastungen für diejenigen, die spezialisierte Gesundheitsversorgung benötigen, die nicht flächendeckend vorhanden ist,
  • mangelndes Fachwissen in den Gesundheitsberufen, das auf fehlende Forschung zu relevanten Fragestellungen zurückgeht.

Zwei Gruppen, für die etliche dieser möglichen Herausforderungen zusammenkommen, sind inter* Menschen im Alter und trans Menschen im Alter, auf die die nachfolgenden Abschnitte eingehen.

Mehr zu institutionellen Barrieren erfahren Sie auch in Lernpfad 5.


Folgen von Zugangsbarrieren. Abbildung nach: Dennert (2022a).

Wenig Wissen über inter* und trans Menschen im Alter

Es existiert keine allgemeine Definition dazu, wer als „alter Mensch“ gilt. Orientierend wird oft ein Alter von 65 Jahren als Grenze angenommen, weil hier ungefähr die Altersrente beginnt. Als hochaltrig gelten Menschen ab dem Alter von 80 Jahren. (Junius-Walker, 2023)

Im Alter stellen sich gesundheitliche Fragen, die für inter* und trans Menschen im Prinzip ähnlich sind wie für alle alternden Menschen. Sie stellen sich jedoch aufgrund der differenten Erfahrungen von inter* und trans Personen auf eine spezifische Weise. Und für ihre Gesundheitsversorgung stehen weit weniger Ressourcen in Form von Wissen und Kompetenzen zur Verfügung als für etliche andere Menschen.

Dieser Abschnitt kann deshalb im Wesentlichen die Lücken aufzeigen, die es in Zukunft auch durch Forschung zu schließen gilt.

Charakteristika der Gesundheit im Alter

In der Gesundheitsversorgung ist der individuelle Gesundheitszustand im zunehmenden Alter durch verschiedene Charakteristika gekennzeichnet (vgl. Junius-Walker, 2023):

  • Abnahme des subjektiven gesundheitlichen Wohlbefindens,
  • enger Zusammenhang zwischen gesundheitlichen Problemen mit Schwierigkeiten, die eigenen alltäglichen Lebensaktivitäten auszuführen und an der Gesellschaft zu partizipieren,
  • Zunahme chronischer Erkrankungsverläufe,
  • gleichzeitiges Vorliegen mehrerer Erkrankungen (Multimorbidität),
  • Einnahme von mehreren Medikamenten, die möglicherweise interagieren,
  • höhere Inanspruchnahme des Gesundheitswesens,
  • steigender Bedarf an ambulanter und stationärer Pflege,
  • steigender Bedarf an palliativer Versorgung und Versorgung am Lebensende.

Hinzu kommen soziale Veränderungen wie der Eintritt in die Altersrente, Veränderungen im sozialen Umfeld, das ebenfalls altert, und der veränderte Status, der Menschen mit zunehmendem Alter in der Gesellschaft zugestanden wird (und der deutlich geschlechtsabhängig ist).

Inter* und trans Menschen im Alter

Es erschließt sich aus der obigen Übersicht unmittelbar, dass Angehörige geschlechtlicher Minderheiten im Alter eine besonders vulnerable Gruppe in der Gesundheitsversorgung darstellen. Sie haben den problematischen Umgang der Gesellschaft und der Medizin mit ihrer geschlechtlichen Situation über Jahrzehnte erlebt und einige tragen dauerhafte Folgen.

Insbesondere intergeschlechtliche Menschen, die als Kinder oder Jugendliche an den äußeren oder inneren Genitalien operiert wurden, berichten davon, diese Eingriffe als schwerwiegende Menschenrechtsverletzung und teilweise dauerhafte Verstümmelung ihres Körpers erlebt zu haben. Einige sind dauerhaft auf Hormonersatztherapien angewiesen bzw. haben diese Eingriffe als traumatisierend mit schwerwiegenden psychischen Folgen erlebt. (Mehr hierzu finden Sie in Modul 2 in diesem Lernpfad.)

Transgeschlechtliche Menschen, die vor 2011 ihren geschlechtlichen Personstand nach dem Transsexuellengesetz ändern wollten, mussten sich sterilisieren lassen. Diese Praxis hat das Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig außer Kraft gesetzt. Wie viele trans Personen dieser Generation aufgrund dieser Vorgaben ungewollt weniger oder keine Kinder als gewünscht haben konnten, ist nicht bekannt. (Mehr zum Transsexuellengesetz finden Sie in Modul 3 in diesem Lernpfad.)

Offene medizinische Fragen

Aktuell bestehen aktuell viele offene medizinische Fragen (vgl. Hardacker et al., 2019).

Wie altern die Physiologie und der Körper nach und mit medizinischen geschlechtsaffirmativen Maßnahmen? Oder nach Zwangseingriffen an inter* Menschen? Wie lassen sich Wechseljahre als physiologischer Übergang im Rahmen des Alters gestalten?Wie kann sinnvoll mit einer bestehenden Hormon(substitutions)behandlung in zunehmendem Alter und bei bestimmten Erkrankungen, für die die hormonelle Situation eine Rolle spielt, umgegangen werden?Was gilt es zu beachten, wenn Menschen im höheren Alter erstmalig eine medizinisch unterstützte körperliche Transition anstreben, die ihnen möglicherweise aufgrund der sozialen Situation über Jahrzehnte hinweg nicht zugänglich war?
Welche Interaktionen von Hormon(ersatz)therapien mit anderen Arzneimitteln sind zu beachten? Welche gesundheitlichen Situationen und Risiken müssen beachtet werden?

Offene soziale und Versorgungsfragen

Gerade dann, wenn die Mobilität und Aktivität aufgrund von gesundheitlichen Beeinträchtigungen, wie sie eben auch Teil von Alterungsprozessen und insbesondere der Situation um Lebensende sind, eingeschränkt sind, wirken sich soziale Unterschiede besonders aus. So verlieren möglicherweise Personen, die außerhalb der großen Metropolen leben, besonders schnell ihre Anbindung an unterstützende Netzwerke oder Communities, weil Treffpunkte schlechter erreichbar oder für Mobilitätseingeschränkte schlechter zugänglich sind.

Wenn die Auswahl an Versorgungseinrichtungen gering ist, z. B. Pflegeplätze rar sind, dann wächst das Risiko insbesondere für Angehörige diskriminierter Minderheiten. Denn im Falle von Diskriminierung oder unzureichender Versorgung ist es nicht möglich, unkompliziert zu einem Leistungserbringer mit höherer Versorgungskompetenz für inter* oder trans Menschen zu wechseln.

Bitte setzen Sie sich mit den folgenden Fragen aus­ein­ander.

Inwiefern haben Sie in Ihrem beruflichen Alltag im Gesundheitswesen mit Menschen im Alter zu tun?
Fallen Ihnen zusätzlich zu den oben aufgeführten Besonderheiten der Situation von inter* und trans Menschen im Alter weitere Fragen oder Aspekte ein, auf die es besonders zu achten gilt? Sind diese spezifisch für inter* und trans Menschen oder teilen sie diese mit anderen Menschen im Alter?
Bitte klicken Sie auf „Weiter“, wenn Sie sich mit den Fragen auseinandergesetzt haben.

Auch wenn zu den möglichen spezifischen Aspekten der Gesundheit und der medizinischen Versorgung von inter* und trans Menschen noch viele Forschungslücken bestehen: Von psychosozialer Kompetenz und gewalterfahrungssensibler Versorgung profitieren alle, insbesondere auch Angehörige geschlechtlicher Minderheiten.

Lernziele:

  1. Es gibt Hinweise auf spezifische gesundheitliche Herausforderungen für inter* und trans Menschen, die wesentlich mit ihren Erfahrungen in der Gesellschaft zusammenhängen.
  2. Sowohl fachliche als auch psychosoziale Kompetenzen auf der Seite der Gesundheitsfachkräften helfen, Barrieren im Versorgungszugang für geschlechtlich non-konform lebende Menschen abzubauen.
  3. Inter* und trans Menschen im Alter stellen in der Gesundheitsversorgung eine besonders vulnerable Gruppe dar.

Beiu, Andreia (2022): Häusliche Gewalt und das Routinescreening von Betroffenen am Beispiel des Landeskrankenhauses Innsbruck. Masterarbeit. Innsbruck.

Dennert, Gabriele (2022a): Barrieren im Zugang zur Gesundheitsversorgung. Dortmund.

Dennert, Gabriele (2022b): Sexual and Gender Minorities and Cancer in Germany. The Striking Absence of Understanding Their Cancer-related Needs. In: Boehmer, Ulrike/Dennert, Gabriele (Hrsg.): LGBT Populations and Cancer in the Global Context. Switzerland: Springer. S. 189–213.

Statistisches Bundesamt. „7,8 Millionen schwerbehinderte Menschen leben in Deutschland. Pressemitteilungen“. https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Behinderte-Menschen/_inhalt.html (Abfrage 19.03.2023).

Hardacker, Cecilia/Ducheny, Kelly/Houlberg, Magda (2019): Transgender and Gender Nonconforming Health and Aging. Cham: Springer International Publishing.

Heidemann, Christin/Scheidt-Nave, Christa/Beyer, Ann-Kristin/Baumert, Jens/Thamm, Roma/Maier, Birga/Neuhauser, Hannelore/Fuchs, Judith/Kuhnert, Ronny/Hapke, Ulfert (2021): Gesundheitliche Lage von Erwachsenen in Deutschland – Ergebnisse zu ausgewählten Indikatoren der Studie GEDA 2019/2020-EHIS. In: Journal of Health Monitoring 6, H. 3, S. 3–27.

Junius-Walker, Ulrike (2023): Ältere und Alte. In: Schwartz, Friedrich Wilhelm/Walter, Ulla/Siegrist, Johannes/Kolip, Petra/Leidl, Reiner/Busse, Reinhard/Amelung, Volker/Dierks, Marie-Luise (Hrsg.): Public Health. Gesundheit und Gesundheitswesen. 4. Auflage. München: Elsevier. S. 217–228.

Safer, Joshua D./Chan, Kelly J. (2019): Review of Medical, Socioeconomic, and Systemic Barriers to Transgender Care. In: Poretsky, Leonid/Hembree, Wylie C. (Hrsg.): Transgender Medicine. A Multidisciplinary Approach. Cham, Switzerland: Humana Press. S. 25–38.

World Health Organization (1986): Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung, 1986.

Zeyen, Tamara-Louise/Brunnett, Regina/Lottmann, Ralf/Kiegelmann, Mechthild/Gerlach, Heiko/Brauckmann, Carolina/Schupp, Markus/Kramer, Jochen/Sauer, Arn/Czapska, Joanna/Müller, Klaus/Krell, Claudia/Eckert, Nora/Schütze, Lea/Seel, Madeline/Wetzel, Thilo/Kranz, Dirk (Hrsg.) (2020): LSBTIQ* und Alter(n). Ein Lehrbuch für Pflege und Soziale Arbeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.