Lernpfad 3: Akzeptanz als
Grundlage der Kontaktgestaltung
Lernmodul 1: „Wir behandeln doch alle gleich“
Bearbeitung ca. 15-20 Min.
1. Erste Schritte & Lernziele
Dieses Lernmodul erläutert, dass inter* und trans Personen – wie alle Patient*innen und Klient*innen – von einer sozial und fachlich kompetenten Gesundheitsversorgung profitieren. Konkrete Beispiele sollen es erleichtern, über die eigenen Berufspraxis nachzudenken und die eigene berufliche Rolle kritisch zu befragen mit dem Ziel, die Versorgungsqualität für geschlechtliche Minderheiten zu verbessern.
Lernziele:
- Eine gute Versorgung bedeutet, allen gleichermaßen mit Respekt und fachlicher Kompetenz zu begegnen.
- Sich mit der Situation geschlechtlicher Minderheiten in der Gesundheitsversorgung zu befassen, erfordert zudem, die eigene fachliche Rolle kritisch zu befragen.
Was denken Sie zu folgender Frage?
Was denken Sie zu folgender Frage?
2. Individuelle Bedarfe in der Gesundheitsversorgung
Gleichwertige Behandlung für alle – an den individuellen Anliegen ausgerichtet
Vielen Fachkräfte, die in der Gesundheitsversorgung arbeiten, ist es wichtig, alle Patient*innen gleichermaßen gut und kompetent zu behandeln. „Wir behandeln doch alle gleich“ – das wird gar nicht so selten vorgebracht, um zu betonen, selbst beispielsweise nicht diskriminierend zu handeln.
Schon auf rein fachlicher Ebene wird schnell deutlich, dass die Gesundheitsversorgung selbstverständlich nicht für alle gleich aussieht: Ein Mensch mit Herzinsuffizienz wird rein fachlich anders behandelt als ein Mensch mit einer Unterschenkelfraktur oder einer depressiven Episode.
Inter*- und transspezifische Themen können von Bedeutung sein
In der Versorgung von inter* und trans Patient*innen können bestimmte Aspekte der geschlechtlichen Situation eine Rolle spielen, auch wenn diese nicht im Mittelpunkt des aktuellen Anliegens stehen.
Dies können beispielsweise Medikamente sein, die im Rahmen einer Hormon(ersatz)therapie eingenommen werden. Oder auch bestimmte Kleidungsgewohnheiten und die Nutzung bestimmter Hilfsmittel, mit denen Menschen ihren geschlechtlichen Ausdruck unterstützen. Dies kann bei einem stationären Aufenthalt, aber auch in der ambulanten Versorgung und insbesondere der Pflege von besonderer Bedeutung sein.
Beispiel: Referenzbereiche für Laborwerte
Auch für die Frage, welche Referenzbereiche für Laborwerte herangezogen werden, spielt die geschlechtliche Situation eine Rolle: Es gibt Laboruntersuchungen, bei denen sich die Referenzbereiche aufgrund biologischer Gegebenheiten zwischen Geschlechtergruppen unterscheiden.
Die Zuordnung zum Referenzbereich des Labors wird nach dem rechtlichen Personenstand vorgenommen. Proben von Menschen mit dem Personenstand „weiblich“ bzw. „männlich“ werden mit diesen geschlechtsspezifischen Referenzbereichen des untersuchenden Labors abgeglichen. Personen mit dem Personenstand divers oder offenem Geschlechtseintrag wird automatisch der Referenzbereich für Frauen zugeordnet (Günther / Schmitz-Weicht, 2022).
Der automatisch zugeordnete Referenzbereich spiegelt also nicht zwingend die körperlichen Aspekte wider. Es empfiehlt sich, bei trans und inter* Patient*innen nachzufragen, ob sie bereits über Erfahrungen verfügen, welcher Referenzbereich für sie aussagekräftiger ist.
Wie bei jeder Interpretation von Laborbefunden gilt auch in dieser Situation, dass ein Laborwert nur in der Zusammenschau mit dem klinischen Befinden, der Anamnese und weiteren Befunden zu bewerten ist.
Beispiel: Diskriminierungserfahrungen in der Vorgeschichte
Menschen, die inter* und / oder trans sind, haben im Laufe ihres Lebens oftmals bestimmte Erfahrungen gemacht, die gruppenspezifisch sind. Gruppenspezifisch bedeutet, dass sie als Individuen in bestimmten Situationen waren, weil sie einer bestimmten sozialen Gruppe angehören. Andere Menschen machen diese Erfahrungen nicht und tun sich deshalb manchmal schwer, gruppenspezifische Erfahrungen wahrzunehmen und anzuerkennen.
Ein Beispiel für gruppenspezifische Erfahrungen von inter* Personen kann insbesondere die Pathologisierung ihres Körpers sein. Möglicherweise haben sie auch medizinische Eingriffe ohne ihre Zustimmung und mit anhaltenden Folgen erlebt.
Trans Personen haben zumeist Erfahrungen mit der Psychopathologisierung ihrer Lebensweise. Falls sie die Kostenübernahme für geschlechtsangleichende medizinische Maßnahmen erreichen wollten, kennen sie zudem das oft als problematisch geschilderte Kostenübernahmeverfahren aus eigener Erfahrung.
Wie im vorherigen Lernpfad dargestellt, können sich diese und weitere Vorerfahrungen auf die Inanspruchnahme der Gesundheitsversorgung und auch den Prozess der Vertrauensbildung in der Versorgung auswirken.
Für Gesundheitsfachkräfte ist es deshalb wichtig, von gruppenspezifischen Erfahrungen zu wissen und sensibel mit dieser Möglichkeit umzugehen. Auch und insbesondere dann, wenn es – und dies ist oft die Situation in der Versorgung – für die Fachkraft offen bleibt, welche konkreten Erfahrungen eine Patient*in oder Klient*in im Einzelfall gemacht hat.
Wie kann eine bedarfsorientierte Versorgung aussehen?
Die Gynäkologin Mechthild Kuhlmann-Weßeling plädiert für eine individuelle bedarfsgerechte Versorgung.
3. Welches Anliegen steht im Mittelpunkt?
Welches Anliegen hat die Person?
Die körperliche, psychische und soziale Gesundheit von Menschen stehen im Mittelpunkt der gesundheitlichen Versorgung. Wie der erste Abschnitt gezeigt hat, kann das Wissen um körperliche, psychische und soziale Aspekte der individuellen Geschlechtlichkeit bedeutsam sein für Diagnostik, Therapie, Pflege oder Präventionsangebote.
Doch nicht immer ist es für eine fachkompetente Versorgung erforderlich, über die Vorgeschichte einer zu behandelnden Person umfassend informiert zu sein. Auch wenn es banal klingt: Für eine zahnärztliche Behandlung ist der Zahnstatus von Belang. Bei einer Screening-Untersuchung auf maligne Hautveränderungen wird der Zahnstatus nicht erhoben.
Es gibt immer Angaben zur körperlichen, psychischen und sozialen Geschichte eines Menschen, die mehr, weniger oder auch gar nicht relevant sein können für den konkreten Versorgungsanlass. Das konkrete Anliegen steht im Mittelpunkt.
Muss ich wissen, ob eine Patient*in inter* oder trans ist?
In der InTraHealth-Studie wurden inter* und trans Menschen zu ihren Erfahrungen in der Gesundheitsversorgung befragt. Fast alle hatten im Jahr vor der Befragung ärztliche, zahnärztliche oder psychotherapeutische Angebote aufgesucht. Zwei Drittel dieser Kontakte fanden mit Gesundheitsfachkräften statt, die bereits über die Inter- bzw. Transgeschlechtlichkeit informiert waren.
War die Behandler*in nicht ohnehin vorinformiert, wurde die Inter-/Transgeschlechtlichkeit in der Hälfte der Behandlungskontakte zum Thema – in der anderen Hälfte nicht. Und in den Situationen, in denen das Trans- oder Intersein zum Thema wurde, geschah dies nicht immer freiwillig. Etliche Patient*innen hätten sich gewünscht, es wäre nicht zum Thema geworden.
Dies macht deutlich: Nein, nicht in allen Situationen ist es erforderlich, über die geschlechtliche Biografie der Klient*in oder Patient*in informiert zu sein. Wenn es nicht von Bedeutung für eine fachkompetente Versorgung ist, geht das die Behandler*in schlicht nichts an.
In jedem Fall ist es wichtig, Offenheit zu signalisieren. Für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit in der Gesundheitsversorgung ist es bedeutsam, dass Patient*innen für sie wichtige Informationen mitteilen können, wenn sie dies möchten und für erforderlich halten.
Positive Erfahrungen – eine inter* Perspektive
Das Wissen um das Intergeschlechtlich-Sein war vorhanden, stand jedoch nicht immer Mittelpunkt: Charlotte Wunn spricht über positive Erfahrungen beim Hausarzt.
4. Kompetent reagieren
Wie wird die Inter- bzw. Transgeschlechtlichkeit zum Thema?
Personen, die ein Versorgungsanliegen mitbringen, dass sich auf ihre Inter- bzw. Transgeschlechtlichkeit bezieht, sprechen dies in der Regel selbst an.
Darüber hinaus kann die geschlechtliche Biografie einer Person zum Thema werden, auch wenn der Behandlungsanlass ein anderer ist. Wir haben in der InTraHealth-Studie inter* und trans Menschen gefragt, wie sie solche Situationen erlebt haben.
Gar nicht so selten erleben Patient*innen und Klient*innen, dass ihre geschlechtliche Situation gegen ihren Willen zum Thema wird. Als kritischer Punkt wurde hier der Erstkontakt bei der telefonischen oder persönlichen Anmeldung beschrieben. Insbesondere wenn der im Alltag verwendete Vorname von den Daten auf der Versichertenkarte abweicht, berichten Patient*innen von unangenehmen Erfahrungen beim Ankommen in einer neuen Praxis.
Dies zeigt, wie wichtig es ist, in Versorgungseinrichtungen das gesamte Team und alle Berufsgruppen in die Fortbildung zu Antdiskriminierungsthemen einzubeziehen.
Auch im Rahmen der Anamneseerhebung wird die inter- bzw. transgeschlechtliche Situation zum Thema, wenn z.B. eine medikamentöse Therapie erfolgt, chirurgische Eingriffe in der Vorgeschichte durchgeführt wurden oder die Biografie in der Sozialanamnese angesprochen wird.
Kompetent reagieren – am Thema bleiben
Inter* und trans Befragte in der InTraHealth-Studie beurteilten es als positiv, wenn das Gegenüber kurz und sachlich reagierte, wenn ihre geschlechtliche Biografie erstmalig zum Thema wurde. Ein kurzes Nicken kann da genügen. Dies macht deutlich, dass ein*e Behandler*in die Information gehört hat.
Als Behandler*in halten Sie es für erforderlich, hierzu etwas in den Behandlungsunterlagen zu vermerken? Es kann sinnvoll sein, im weiteren Gesprächsverlauf abzusprechen, welche Informationen Sie konkret notieren.
Behandler*innen sollten es vermeiden, sich unmittelbar vom eigentlichen Gegenstand der Interaktion abbringen zu lassen.
Es geht um die Neuaufnahme einer Patient*in? Dann bleiben Sie bei der Terminvereinbarung oder was auch immer Sie gerade klären wollten. Sie erheben die Medikamentenanamnese? Führen Sie diese zu Ende, bevor Sie nachfragen, aus welchen Gründen z. B. bestimmte Hormonpräparate eingenommen werden.
Dabei ist es wichtig, immer den aktuellen Anlass der Konsultation im Blick zu behalten.
Grenzüberschreitende Fragen vermeiden – offene Fragen stellen
Etliche inter* und trans Menschen machen die Erfahrung, dass ihnen Fragen zu ihrer geschlechtlichen Situation und Biografie gestellt werden, die mit ihrem eigentlichen Anliegen nichts zu tun haben.
In der InTraHealth-Studie berichteten Teilnehmende, beispielsweise an der Praxis-Anmeldung oder bei einer zahnärztlichen Behandlung nach ihren Genitalien bzw. nach vergangenen genitalchirurgischen Eingriffen gefragt worden zu sein. Im vorangegangen Lernpfad konnten Sie in einem Video die Schilderung einer derartigen Situation hören.
Es gilt, sich zu vergegenwärtigen, dass Behandlungssituationen mit einem Machtgefälle einhergehen: Die Patient*in ist in der bedürftigeren Situation. Was Fachkräfte fragen, sollte der Verbesserung der gesundheitlichen Situation und dem vertrauensvollen Behandlungsverhältnis dienen.
Wenn Sie sich nicht sicher sind, inwiefern weitere Aspekte aus dem Leben einer Person für den aktuellen Behandlungsanlass von Bedeutung sein könnten, können Sie offen fragen: „Gibt es noch etwas, was ich über Sie wissen sollte, um Sie gut versorgen zu können?“
Welche Risiken bringen Fehlannahmen mit sich?
Die geschlechtliche Biografie kann wichtig sein für die Behandlung. Alle gesundheitlichen Themen jedoch – wie hier im Beispiel – auf die Transgeschlechtlichkeit von Patient*innen zurückzuführen, führt zu Fehldiagnosen und Fehltherapien. Eric Barth schildert seine persönlichen Erfahrungen.
5. Zur Bedeutung beruflicher u.a. Selbstreflexion
Etliche Wünsche, die inter* und trans Menschen in der InTraHealth Studie an die Gesundheitsversorgung formuliert haben (siehe vorangegangene Grafik), mögen selbstverständlich klingen.
Sie unterstreichen jedoch auch die Bedeutung der beruflichen und persönlichen Selbstreflexion als Grundlage für fachkompetentes Handeln.
Die zwei nachfolgenden Videoausschnitte gehen aus verschiedenen Perspektiven auf die Wichtigkeit von Offenheit und einer Haltung ein, in der Behandler*innen auch sich selbst befragen.
Intergeschlechtlichkeit in der Medizin: die eigene professionelle Rolle hinterfragen
Sabine Oertelt-Prigione bildet Medizinstudierende zu geschlechtergerechter Medizin aus. Sie erklärt, dass alle Menschen als Expert*innen ihrer Gesundheit angesehen werden sollten, und plädiert dafür, die eigene Rolle als Fachkraft zu hinterfragen.
Geschlecht als „Konflikt” und „Versprechen”
Antke Antek Engel spricht über Geschlecht als „Konflikt“ und „Versprechen“: Ein produktiver Umgang mit dem Thema Geschlecht erfordert es auch, sich persönlich für diese Aspekte zu öffnen.
6. Lernziele & Modulabschluss
Inter* und trans Klient*innen und Patient*innen benötigen keine „besondere“ Behandlung, sondern gleichermaßen Respekt und fachliche Kompetenz wie alle anderen auch.
Lernziele:
- Eine gute Versorgung bedeutet, allen gleichermaßen mit Respekt und fachlicher Kompetenz zu begegnen.
- Sich mit der Situation geschlechtlicher Minderheiten in der Gesundheitsversorgung zu befassen, erfordert zudem, die eigene fachliche Rolle kritisch zu befragen.
Bitte setzen Sie sich mit den folgenden Fragen auseinander.
Quellenangaben
Günther, Mari/Schmitz-Weicht, Cai (2022): Trans* Patient*innen willkommen. Informationen für den Praxisalltag – Für Ärzt*innen und medizinisches Fachpersonal. Berlin.