Lernpfad 3: Akzeptanz als Grundlage der Kontaktgestaltung
Lernmodul 4: Hinweise zur Anamnese II
Bearbeitung ca. 15-20 Min.
1. Erste Schritte & Lernziele
Dieses Modul widmet sich dem Verlauf eines Anamnesegesprächs. Besonders thematisiert werden wissenswerte Details zu Gesprächen mit inter* und trans Patient*innen und Klient*innen hinsichtlich folgender Gesprächsteile: Klären des Behandlungsanlasses, Erheben verschiedener relevanter Daten wie Medikamenten- oder Sozialanamnese sowie Gesprächsabschluss und Dokumentation.
Dieses Modul baut direkt auf dem vorhergehenden Modul auf, in dem Grundlagen, Vorbereitung und Einstieg in das Anamnesegespräch dargestellt sind. Falls Sie das vorherige Modul noch nicht bearbeitet haben, empfehlen wir, dies zuerst zu tun und dann hierher zurückzukehren.
Lernziele:
- Es ist eine wichtige fachliche Aufgabe, die Relevanz der geschlechtlichen Biografie und Situation für den aktuellen Versorgungsanlasse zu erfassen. Diese Einschätzung sollte mit den Patient*innen besprochen werden.
- Um sich vor Diskriminierung zu schützen, machen manche inter* und trans Menschen im Anamnesegespräch unvollständige Angaben.
- Sensible Sprache und das Einordnen von Fragen in einen transparenten Kontext erleichtern die Anamnese.
2. Ablauf einer Anamnese und Fokus des Moduls
Ablauf einer Anamnese
Nachfolgend sehen Sie eine schematische Darstellung von Schritten, die ein Anamnesegespräch haben kann. Sie kennen diese Abbildung bereits aus dem vorherigen Modul und wissen auch bereits, dass sich die Ausführungen hier am Ablauf klinischer Anamnesen orientieren.
Dieses Modul fokussiert auf die Schritte vom Klären des Behandlungsanliegens bis zur Dokumentation.
Abb.: Ablauf einer Anamnese, erstellt unter Verwendung von: DEGAM, 2022b.
Fokus: Wichtige Aspekte für inter* und trans Patient*innen
Je nach Disziplin und Setting verlaufen Anamnesegespräche unterschiedlich. Dieses Modul versucht, wichtige Aspekte in Gesprächen mit inter* und trans Patient*innen und Klient*innen darzustellen, die sich von der Struktur oder Grundidee her auch in andere Bereiche der Gesundheitsversorgung übertragen lassen.
Diese Lernplattform geht davon aus, dass Sie fachlich mit dem Typ von Anamnese, der für Ihre Arbeitsaufgaben von Bedeutung ist, vertrauter sind, als es hier in einer allgemeinen Übersicht dargestellt werden könnte.
Der nachfolgende Ablauf bietet also keine Anleitung, wie (klinische) Anamnesen verlaufen, sondern fokussiert spezifische Aspekte zu geschlechtlicher Heterogenität. Bestimmte durchaus wichtige Teile einer Anamnese werden in diesem Modul nicht adressiert, wie die vegetative Anamnese, die Allergie- oder die Reiseanamnese.
Fokus: Allgemeine Versorgungsanliegen
Auch stellt dieses Modul Gesundheitsanliegen in den Mittelpunkt, wie sie sich für alle Menschen stellen können, unabhängig von deren geschlechtlicher Biografie.
Kontaktanlässe, bei denen die geschlechtliche Situation und Biografie im Mittelpunkt steht, sind nicht der Fokus dieser Lernplattform – sei es im Rahmen von Begutachtungsverfahren, psychotherapeutischer Unterstützung oder der Einleitung von geschlechtskörperverändernden Maßnahmen. Einiges von dem, was Sie hier erfahren, kann jedoch auch für diese Gespräche hilfreich sein, weil es durchaus Überschneidungen und Parallelen zu anderen Kontakten im Gesundheitswesen gibt.
3. Der Behandlungsanlass: Offener Einstieg
Offene Einstiegsfrage
Nach der Begrüßung und Vorstellung der Gesprächsbeteiligten eröffnet die Gesundheitsfachkraft zumeist offen das Gespräch zum aktuellen Behandlungslass.
Zumeist wird dieser Teil mit einer offenen Frage eingeleitet:
„Was führt Sie zu mir?“
„Welche Beschwerden haben Sie?“
„Welches Anliegen bringt Sie heute hierher?“
Die Anamnese zum Behandlungsanlass fokussiert auf die aktuellen Beschwerden bzw. auf das aktuelle Anliegen von Patient*innen und Klient*innen.
Das Behandlungsanliegen verstehen und fokussieren
Etliche inter* und trans Menschen berichten in Studien, dass Fachkräfte gelegentlich nicht das eigentliche Anliegen fokussieren, sobald die geschlechter-nonkonforme Biografie deutlich wird. Manche Fachkräfte versuchten, den Fokus des Kontaktes und des Gesprächs in Richtung Inter- bzw. Transgeschlechtlichkeit zu verschieben, auch wenn dies nicht im Vordergrund des aktuellen Behandlungsanlasses stand.
Deshalb ist es gerade im Kontakt mit Angehörigen geschlechtlicher Minderheiten wichtig, deren eigentliches Behandlungsanliegen zu verstehen und dann auch im Zentrum des Kontaktes zu halten.
Eine Möglichkeit hierzu ist, den Anlass zu paraphrasieren – also in eigenen Worten zu formulieren – so wie Sie ihn verstanden haben. Sie stellen dadurch eine gemeinsame und geteilte Grundlage mit den Patient*innen und Klient*innen her. Diese erhalten zudem die Möglichkeit, korrigierend einzugreifen, falls die Fachkraft etwas falsch verstanden hat.
Anschließend kann man nachfragen, ob es noch weitere Anliegen gibt: „Gibt es sonst noch etwas, was Sie heute hierherführt?“.
Sollte es wichtig sein, zur Klärung des Anliegens auch die geschlechtliche Situation besser zu verstehen, dann sind Nachfragen später im Gesprächsverlauf sinnvoll.
Gespräche verlaufen nicht linear
Manche Themen möchten oder können Menschen nicht direkt zu Anfang formulieren. Das bedeutet, dass Menschen im weiteren Verlauf eines Gesprächs Informationen oder Fragen einbringen, die sie zu einem früheren Zeitpunkt noch nicht bereit waren anzusprechen. Es kann also durchaus sein, dass sich im Verlauf weitere Anliegen ergeben, auch wenn diese anfangs nicht zur Sprache kamen. (DEGAM, 2022)
Insbesondere Menschen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits Diskriminierungserfahrungen gemacht haben, benötigen ein ausreichend vertrauensvolles Arbeitsbündnis als Grundlage. Es ist deshalb sinnvoll, Patient*innen auch zu einem späteren Zeitpunkt zu ermöglichen, nochmals auf Themen zurückzukommen. Wenn es die Zeit nicht mehr erlaubt, diese unmittelbar zu adressieren, kann genau das zum Thema gemacht werden, wie mit den jetzt offenbleibenden Fragen weiter verfahren werden soll.
Bitte setzen Sie sich mit den folgenden Fragen auseinander.
Hinweis: Falls Sie sich im vorangegangen Lernmodul Notizen gemacht haben und diese noch besitzen, empfehlen wir Ihnen, diese jetzt wieder heranzuziehen und weiterzuführen.
Sie haben sich im vorangegangenen Modul bereits Gedanken gemacht, inwiefern Sie selbst Anamnesen erheben bzw. auf die Dokumentationen anderer zurückgreifen.
Welche der Aspekte und Themen aus diesen Anamnesen haben Ihrer Ansicht nach eine besonders enge Verbindung zu dem Thema „Geschlecht“? Gibt es Aspekte oder Themen in der Anamnese, bei denen „Geschlecht“ Ihrer Ansicht nach überhaupt keine Bedeutung hat?
Wenn möglich, machen Sie sich Notizen – Sie werden später nochmals darauf zurückkommen.Am Ende dieses Lernmodul können Sie sich selbst eine Handreichung für Ihren eigenen Arbeitsbereich erstellen. Hierfür können Ihre Notizen sehr hilfreich sein.
4. Der Behandlungsanlass: Gezieltes Nachfragen
Bitte setzen Sie sich mit den folgenden Fragen auseinander.
Wenn möglich, machen Sie sich Notizen – Sie werden später nochmals darauf zurückkommen.
Das Anliegen vertiefen
Aufbauend auf der freien Erzählung des Anliegens werden die relevanten Aspekte durch gezieltes Nachfragen vertieft, um für Diagnose, Behandlungsplanung und Verständnis der gegenwärtigen Gesamtsituation relevante Informationen einzuholen.Im klinischen Setting orientieren sich die Nachfragen an den Leitsymptomen, dem Beschwerdebild bzw. dem konkreten Anliegen.
In Studien hoben inter* und trans Personen hierzu verschiedene Erfahrungen hervor, die sie in Anamnesegesprächen als problematisch erlebt hatten und auf die dieser Text nun eingeht.
Die Reihenfolge wurde gewählt, um die Themen aufeinander aufbauend präsentieren zu können. Dies ist kein Vorschlag zur Reihenfolge im Anamnesegespräch. Es wird empfohlen, zuerst den Behandlungsanlass zu klären und dann im Bedarfsfall auf die geschlechtliche Situation einzugehen (Woulf-Gold/Woulf-Gold, 2020).
Thema 1: Die körperliche Situation – wenn relevant – erfassen
Wenn körpergeschlechtliche Aspekte, die für das aktuelle Anliegen relevant sind, von der Fachkraft nicht erkannt oder nicht korrekt erfasst werden, kann dies dazu führen, dass wichtige Informationen nicht erfragt werden. Dies kann zu Fehldiagnosen und -behandlungen beitragen.
Sie erinnern sich möglicherweise an das Beispiel des Mannes mit Bauchschmerzen in der Notaufnahme (aus Lernpfad 1). Zum Standard der Differenzialdiagnose des „Akuten Abdomens“ gehören zwar bei Frauen gynäkologische Fragestellungen und die Klärung, ob eine Schwangerschaft besteht – nicht jedoch bei Männern. Dass der Mann eine Transitionsgeschichte hatte, gebärfähig war und eben schwanger war, wurde nicht erkannt.
Manche inter* Mensch müssen zunächst erklären, dass Intergeschlechtlichkeit existiert und dass einige inter* Menschen eine Hormonersatztherapie machen. (Im nachfolgenden Abschnitt zur Medikamentenanamnese sehen Sie einen Videoausschnitt dazu.) Die Notwendigkeit zur Hormonersatztherapie kann aus der zugrundeliegenden körpergeschlechtlichen Situation resultieren, wenn der Hormonstoffwechsel betroffen ist, oder aber auch erforderlich geworden sein, weil einer Person operativ die Gonaden entfernt wurden.
Vorschläge zum Erfassen der körpergeschlechtlichen Situation
In gegenwärtigen Publikationen finden sich folgende Empfehlungen, um im Bedarfsfall die körpergeschlechtliche Situation zu erfassen:
Bereits die Fragen im Aufnahme- oder Anamnesebogen sollten so gestellt sein, dass Angehörige geschlechtlicher Minderheiten relevante Angaben machen können, z.B. zur geschlechtlichen Selbstbezeichnung.
In Situationen, in denen dies erforderlich ist, kann nachfolgend eine Frage zum Geschlecht gestellt werden, das nach der Geburt als Personenstand erfasst wurde (eine Beispielfrage sehen Sie weiter unten in einer Grafik).
Der Personenstand nach der Geburt in Deutschland war bei heute erwachsenen Menschen entweder “weiblich” oder “männlich”, denn bis vor wenigen Jahren gab es keine weitere Option für den Geschlechtseintrag. Wenn die aktuelle Selbstbezeichnung einer Person anders ist als der Personenstand nach der Geburt, deutet dies auf die Zugehörigkeit der Person zu einer geschlechtlichen Minderheit hin.
Wichtig ist, zu verstehen, dass es sich hier um sensible Fragen handelt. Die Frage nach dem Personenstand nach Geburt sollte nur dann gestellt werden, wenn die Antwort von Bedeutung ist und der Kontext der Frage für Patient*innen verständlich ist. Zudem gibt es darüber hinaus weitere Menschen, die geschlechtlichen Minderheiten angehören, die Sie mit diesen beiden Fragen nicht erfassen können.
Wenn Patient*innen Hinweise auf die Zugehörigkeit zu einer geschlechtlichen Minderheit gegeben haben, kann im Gespräch eine offene Frage gestellt werden:
„Sie haben auf dem Aufnahmebogen angegeben, dass Sie trans [oder: transident oder intergeschlechtlich oder … Selbstbezeichnung verwenden] sind. Oder: Ich habe gesehen, dass Ihr geschlechtlicher Personenstand bei Ihrer Geburt ein anderer war als er heute ist.
Gibt es irgendetwas, was ich dazu aus Ihrer Sicht zum jetzigen Zeitpunkt wissen sollte, um Sie gut versorgen zu können?“
Dieser offenen Frage können, falls erforderlich, konkretere Fragen folgen, beispielsweise welche Organe vorhanden sind.
Beispielformulierung für die Frage nach dem Geschlechtseintrag bei Geburt:
Thema 2: Den Kontext von Fragen transparent machen
Wenn Gesundheitsfachkräfte eine Frage zur geschlechtlichen Situation für wichtig für das Behandlungsanliegen halten, ist es sinnvoll, dies kurz zu erklären.
Gerade bei Menschen, die schon oft erlebt haben, dass ihnen neugierige und irrelevante Fragen zu ihrer Geschlechtlichkeit gestellt wurden, ist dies besonders sinnvoll. Es hilft, Irritation und Verunsicherung im Gespräch zu vermeiden. Eine kurze Einordnung erhöht zudem die Wahrscheinlichkeit, dass Patient*innen bereit sind, relevante Informationen mit Fachkräften zu teilen.
Thema 3: Keine irrelevanten Fragen stellen
Daraus ergibt sich auch, dass Fragen zur geschlechtlichen Situation nicht gestellt werden sollen, wenn kein Bezug zur Klärung des aktuellen Versorgungsanlasses besteht.
Thema 4: Auf sensible Sprache achten
Im Anamnesegespräch ist es häufig eine Aufgabe der Gesundheitsfachkraft, hinsichtlich des Kontaktanlasses mehr Details zu erfragen und diese auch sprachlich zu präzisieren. Wenn z. B. Schmerzsymptome erfasst werden sollen, kann man verschiedene Begriffe vorschlagen und fragen, was zutrifft (brennend, stechend, bohrend …) – dies als Beispiel.
Im Sprechen über die geschlechtliche Situation empfiehlt es sich hingegen, die Worte des Gegenübers zu nutzen, um über das Geschlecht zu sprechen. Falls Sie Fragen haben, wie Patient*innen bestimmte Begriffe meinen, können Sie nach deren Bedeutung für die Situation fragen. Zu denken ist hier einerseits an die geschlechtliche Selbstbezeichnung. Aber auch an die Begriffe, die Menschen für ihre Geschlechtsorgane verwenden.
Einige trans bzw. inter* Personen bevorzugen die fachsprachlichen Begriffe für innere und äußere Genitalien und sprechen z. B. lieber von Uterus als von Gebärmutter oder von Gonaden statt von Eierstöcken oder Hoden.
Thema 5: Die Relevanz der geschlechtlichen Situation gemeinschaftlich klären
In Studien haben inter* und trans Menschen auch davon berichtet, dass sie selbst manchmal nicht wissen und nicht wissen können, inwiefern Informationen zu ihrer Trans- oder Intergeschlechtlichkeit relevant sein könnten. Obwohl sie sich dem Risiko von Diskriminierung aussetzen, sprechen sie deshalb ihre geschlechtliche Situation an.
Eine Fachkraft, die eine kurze aufmerksame Rückmeldung gibt in Anerkennung für die Offenheit, die ihr gerade entgegengebracht wurde, hilft, die Zusammenarbeit weiterhin positiv zu entwickeln.
Mit einer offenen Frage kann nach der Einordnung dieser Informationen durch die Patient*innen selbst gefragt werden – unabhängig von der Bedeutung, die man selbst einer Information beimisst. Man erfährt dadurch etwas über das subjektive Verständnis von Krankheit und Gesundheit der Patient*innen:
„Sie haben vorhin erwähnt, dass Sie eine geschlechtsangleichende Hormontherapie machen. Sehen Sie für sich einen Zusammenhang mit dem, was Sie heute zu mir führt, auf den ich möglicherweise nicht direkt komme?“
Zudem sind inter* und trans Menschen Expert*innen ihrer selbst und verfügen zumeist über lange Erfahrung mit sich im Kontakt mit der Gesundheitsversorgung, nach dem man fragen kann:
„Sie haben vorhin erwähnt, dass Sie inter* sind. Im Rahmen der Untersuchung nehme ich Ihnen jetzt gleich noch Blut ab. Haben Sie Erfahrungen damit, welcher Referenzbereich für die Blutwerte für Sie gut funktioniert?“
5. Anamnese zu Medikamenten und Substanzgebrauch
Anamnese zur Einnahme von Medikamenten
In der Medikamentenanamnese werden alle verordneten und selbst gekauften Medikamente und sonstigen Mittel (wie Phytotherapeutika, Nahrungsergänzungsmittel, Spezialnahrungen etc.) erfasst. Erfragt wird auch, wie (regelmäßig) verschriebene Medikamente tatsächlich eingenommen werden. Auch die Nutzung von Kontrazeptiva wird erfragt.
Wenn Patient*innen von Hormontherapien oder Hormonersatztherapien bzw. der Anwendung entsprechender Präparate berichten, ist es wichtig, nach dem Behandlungsgrund zu fragen. Diese können sehr verschieden sein.
Immer wieder sind beispielsweise inter* Personen mit der Situation konfrontiert, dass sie zunächst für trans gehalten werden – einfach deswegen, weil Transgeschlechtlichkeit auch bei Gesundheitsfachkräften bekannter ist als Intergeschlechtlichkeit.
Selbstmedikation
Selbstmedikation kann mit frei verkäuflichen Präparaten aus der Apotheke erfolgen. Nach diesen wird in einer Medikamentenanamnese zumeist routinemäßig gefragt.
Auch die Frage nach Präparaten aus den Bereichen Phytotherapeutika, Nahrungsergänzung und Ernährung kann wichtig sein als Grundlage für Beratung und auch zur Differenzialdiagnose bestimmter Beschwerdebilder. Insbesondere ist zu denken an phytoestrogenhaltige Mittel, bestimmte Nahrungsergänzungsmittel oder Zusatznahrung mit hohem Proteingehalt.
Es sollte zudem nach Medikamenten oder Substanzen gefragt werden, die auf anderem Wege erworben worden sind. Manche Menschen besorgen sich hormonwirksame und eigentlich in Deutschland verschreibungspflichtige Präparate außerhalb einer ärztlichen Verordnung.
Das zu erfahren, ist wichtig, weil hormonell wirksame Präparate Blutwerte oder Blutgerinnung verändern können. Zu denken ist hier an Testosteron und Veränderungen in der Erythrozytenbildung sowie an Estrogenen, insbesondere in der Kombination mit Rauchen (Thrombose/Embolierisiko). (Bevan 2019)
Bei stationären Aufnahmen oder in Settings, in den Menschen eine selbst eingeleitete Anwendung von Hormonpräparaten nicht eigenständig aufrechterhalten können, sollte im Sinne des Wohlbefindens der Patient*innen überprüft werden, diese ärztlich verordnet weiterzuführen. (Coleman et al., 2022)
Substanzgebrauch
Es gibt Hinweise darauf, dass Rauchen, riskanter Alkoholkonsum und Drogengebrauch insbesondere bei trans Menschen (über inter* Menschen liegen kaum Daten vor) weiter verbreitet sind als in der Allgemeinbevölkerung. Einen höheren riskanten Substanzgebrauch findet man allgemein auch in anderen sozialen Gruppen, die gesellschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt sind und dadurch Stress erfahren.
Erstkontakt in der hausärztlichen Versorgung: eine inter* Perspektive
Wenn ihre Hormonersatztherapie zur Sprache kommt, muss Charlotte Wunn gelegentlich erklären, was Intergeschlechtlichkeit ist.
6. Krankheitsgeschichte
Situationsbezogene Vorgeschichte
Die Vorgeschichte von Patient*innen umfasst üblicherweise für die aktuelle Situation relevante frühere Erkrankungen, Verletzungen, Unfälle, Klinikaufenthalte und Operationen. Erfragt werden zudem chronische Erkrankungen sowie frühere Schwangerschaften.
Bevor Fragen nach Menstruation oder Schwangerschaften gestellt werden, sollten Gesundheitsfachkräfte aus den ihnen vorliegenden Informationen möglichst wissen, ob die Patient*in trans bzw. inter* ist. Dies erleichtert es, solche Fragen kurz einzuleiten. Für manche Personen stellen Fragen nach körperlichen Aspekten des eigenen Geschlechts eine potenziell belastende Situation dar.
In jedem Fall ist es wichtig, mit den Antworten wertschätzend und fachkompetent umzugehen.
Operationen in der Vorgeschichte
Die Frage nach früheren Operationen wird oft routinemäßig im Rahmen der Anamnese gestellt. Wenn Patient*innen oder Klient*innen geschlechtsangleichende oder geschlechtsverändernde Eingriffe hatten, kommt dies hier in der Regel zur Sprache. Manchmal ziehen Patient*innen es vor, hier keine oder lückenhafte Angaben zu machen, insbesondere wenn der Zusammenhang zum aktuellen Behandlungsanlass für sie nicht erkennbar ist.
Nach Details zu geschlechtsangleichenden bzw. geschlechtsverändernden Operationen sollte nur gefragt werden, wenn dies für die aktuelle Situation relevant ist. Nicht alle trans bzw. inter* Personen hatten geschlechtsangleichende oder geschlechtsverändernde Operationen. Nicht alle streben geschlechtsangleichende Operationen an.
In jedem Fall sollte vermieden werden, von „präoperativ“ und „postoperativ“ hinsichtlich geschlechtsangleichender Operationen zu sprechen. Gemeint sind damit zumeist geschlechtsangleichende Eingriffe an den Genitalien, die nur von einem Teil von trans Personen überhaupt angestrebt werden. Die Formulierung prä bzw. post suggeriert, dass es sich um einen Eingriff handelt, der als Norm oder unabdingbar angesehen wird.
Mögliche chirurgische Interventionen betreffen zum einen den Oberkörper (Mammoplastik, Mastektomie) oder den Unterkörper (Hysterektomie, Ovariektomie, Kolpektomie, Penoidaufbau/Phalloplastik, Vaginoplastik/Vulvaplastik). Auch an den Stimmbändern oder am Gesichtsschädel werden teilweise geschlechtsangleichende Eingriffe vorgenommen.
Psychische Gesundheit
Neben internationalen Studien hat auch die InTraHealth-Studie Hinweise darauf ergeben, dass die seelische Gesundheit von inter* und trans Personen besondere Aufmerksamkeit verdient. In internationalen Studien zeigt sich ein höheres Suizidrisiko bei geschlechtlichen Minderheiten. (Streed, 2016)
Auch in der InTraHealth-Studie fällt der hohe Anteil von Teilnehmenden auf, die von psychischen Beschwerden berichten. Insbesondere depressive Störungen und Essstörungen wurden häufig genannt. Vor dem Hintergrund dessen, dass es sich bei Depressionen und Anorexia nervosa um Erkrankungen mit einer hohen Letalität handelt – also viele Betroffene im Rahmen der Erkrankung versterben –, sind therapeutische Unterstützungsangebote von hoher Bedeutung.
Erstkontakt in der Gynäkologie: eine inter* Perspektive
Wer Anamnesefragen stellt, sollte mit den Antworten wertschätzend umgehen können. Charlotte Wunn spricht über gynäkologische Versorgung.
7. Psychosoziale Anamnese, Absprachen, Dokumentation
Psychosoziale Anamnese
Die psychosoziale Anamnese umfasst eine Reihe von Themen:
- situationsrelevante Vorgeschichte eines Menschen, z. B. bedeutsame Vorerfahrungen,
- aktuelle Lebensumstände,
- Bewältigungsverhalten und Ressourcen,
- subjektives Erleben der Situation bzw. Erkrankung,
- verhaltensbezogenen Risikofaktoren,
- Umgebungs- und gesellschaftliche Faktoren,
- berufliche Situation,
- soziales Unterstützungssystem.
Je nach Situation und Setting erhält dieser Teil unterschiedlich viel Raum und Zeit im Gespräch.
Manchmal beschränkt er sich darauf, dass bestimmte Informationen direkt abgefragt werden, wie der Partnerschaftsstatus oder Berufstätigkeit.
Offene Einleitungsfrage statt geschlossenem Fragekatalog
Insbesondere direkte und teilweise geschlossene Fragen („Sind Sie verheiratet?“) können Angehörige geschlechtlicher oder auch sexueller Minderheiten vor Probleme stellen und zurückhaltend werden lassen.
Eine Alternative ist es, eine offene Frage zu stellen:
„Ich habe noch kein Bild davon, wie Sie leben und mit der aktuellen Situation umgehen. Ich würde gerne mehr darüber erfahren. Würden Sie mir darüber etwas erzählen?“
Dies ermöglicht es Patient*innen und Klient*innen, selbst zu steuern, was sie ansprechen möchten. Einzelne Aspekte und Bereiche, die für den Behandlungsanlass wichtig sind, können anschließend noch konkret nachgefragt werden, wenn sie nicht angesprochen werden.
Auf die einzelnen Themen, die in einer psychosozialen Anamnese zur Sprache kommen können, wird an dieser Stelle nicht weiter eingegangen. Sie sind Gegenstand aller Lernpfade und -module dieses Selbstlernangebotes.
Absprache zum weiteren Vorgehen und Gesprächsabschluss
Anamnesegespräche enden mit einer Zusammenfassung der wesentlichen Punkte und einer Absprache zum weiteren Vorgehen. Wenn es sich um einen Kontakt handelt, in dem eine körperliche Untersuchung vorgesehen ist, dann kann diese anschließend oder auch integriert zwischen verschiedene Teile des Gesprächs durchgeführt werden.
Was waren die Hauptergebnisse des aktuellen Kontakts? Wie geht es jetzt weiter? Welche konkreten nächsten Schritte werden vereinbart und wer unternimmt diese? Ist ein weiterer Termin vorgesehen und wenn ja, wann? Gibt es noch Fragen, die offen geblieben sind?
Dieser Teil bietet auch die Gelegenheit, nochmals sicherzustellen, dass das Verständnis der Situation von den Gesprächspartner*innen geteilt wird:
„Habe ich das so richtig zusammengefasst?“
„Ist das so in Ihrem Sinne?“
Dokumentation
Ein Teil der Dokumentation geschieht während eines Gesprächs durch Mitschriften. Ein Teil erfolgt im Nachgang zu einem Gespräch.
Bei der Dokumentation möglicherweise sensibler Daten zur geschlechtlichen Biografie von inter* und trans Patient*innen erscheint es sinnvoll, das Vorgehen noch im Gespräch mit diesen zu klären:
„Wir haben uns eingangs darüber unterhalten, wie und mit welchem Namen Sie angesprochen werden möchten. Das ist ja nicht der Name, der auf Ihrer Krankenkassenkarte steht. Ich möchte Ihnen vorschlagen, dass ich dazu jetzt einen Vermerk in Ihren Unterlagen mache – dann werden Sie nicht jedes Mal aufs Neue danach gefragt. Sind Sie einverstanden?“
„Was möchten Sie, dass ich notiere in der Dokumentation?“
Sie haben jetzt die Möglichkeit, sich Notizen zu Ihrem eigenen Vorgehen bei Anamnesegesprächen zu machen, die Sie sich dann als PDF-Datei speichern oder ausdrucken können.
Hinweis: Am Ende des vorangegangenen Moduls hatten Sie bereits Gelegenheit, sich Notizen zu machen. Wenn Sie diese Notizen noch haben, empfiehlt es sich, sie zur Hand zur nehmen und inhaltlich auszubauen.
8. Lernziele & Modulabschluss
Gespräche in der Gesundheitsversorgung unterscheiden sich in Zielen, Ablauf und der Zeit, die für sie zur Verfügung steht.
Grundwissen über häufige Themen, Erfahrungen und Anliegen von inter* und trans Menschen kann Gesundheitsfachkräften helfen, den Gesprächsverlauf akzeptierend zu gestalten.
Lernziele:
- Es ist eine wichtige fachliche Aufgabe, die Relevanz der geschlechtlichen Biografie und Situation für den aktuellen Versorgungsanlasse zu erfassen. Diese Einschätzung sollte mit den Patient*innen besprochen werden.
- Um sich vor Diskriminierung zu schützen, machen manche inter* und trans Menschen im Anamnesegespräch unvollständige Angaben.
- Sensible Sprache und das Einordnen von Fragen in einen transparenten Kontext erleichtern die Anamnese.
Quellenangaben
Bevan, Dana Jennett (2019): Transgender Health and Medicine. Santa Barbara: ABC-CLIO LLC.
Coleman, E./Radix, A. E./Bouman, W. P et al. (2022): Standards of Care for the Health of Transgender and Gender Diverse People, Version 8. In: International journal of transgender health 23, Suppl 1, S1-S259.
Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin e.V. „Das anamnestische Erstgespräch. DEGAM-Praxisempfehlung“. https://www.degam.de/files/Inhalte/Leitlinien-Inhalte/Dokumente/DEGAM-Praxisempfehlungen/Das%20anamnestische%20Erstgespraech/2022/DEGAM%20PE%20anam.%20Erstgespr%C3%A4ch%202022.pdf (Abfrage 31.03.2023).
Fritzsche, Kurt/Geigges, Werner/Richter, Dietmar/Wirsching, Michael (Hrsg.) (2015): Psychosomatische Grundversorgung. 2., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage. Berlin, Heidelberg: Springer.
Streed, Carl G. (2016): Medical History. In: Eckstrand, Kristen L./Ehrenfeld, Jesse M. (Hrsg.): Lesbian, gay, bisexual, and transgender healthcare. A clinical guide to preventive, primary, and specialist care. Cham: Springer. S. 65–80.
Wolf-Gould, Christopher/Wolf-Gould, Carolyn (2020): Primary and Preventative Care for Transgender Patients. In: Ferrando, Cecile A. (Hrsg.): Comprehensive Care of the Transgender Patient. Philadelphia: Elsevier. S. 114–130.