Lernpfad 1: Basiswissen
Geschlecht und Gesundheit

Lernmodul 5: Bedeutung von Geschlecht

Bearbeitung ca. 15-20 Min.


Dieses Modul führt in die Bedeutung von Geschlecht und geschlechtlicher Heterogenität in der Gesundheitsversorgung ein.

Lernziele:

  1. Geschlecht ist relevant für den Zugang zu Leistungen der Gesundheitsversorgung.
  2. Geschlecht beeinflusst die Qualität der Versorgung.
  3. Die Akzeptanz von geschlechtlicher Heterogenität ist eine Voraussetzung für eine bestmögliche Gesundheitsversorgung.

Gesundheitsversorgung: Begriffsklärung

Unter Gesundheitsversorgung im engeren Sinne werden die Abläufe verstanden, die dazu beitragen, dass Gesundheitsleistungen für einzelne Personen erfolgen können bzw. erfolgen (Schwartz/Busse, 2012: 556).
Im Mittelpunkt dieser Betrachtungsweise steht die persönliche Versorgung der einzelnen Person im Kontakt mit den Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten. Weiterhin von Bedeutung sind die Institutionen des Gesundheitswesens und die strukturellen Rahmenbedingungen, wie z.B. die Gesundheitspolitik.

Biologische Aspekte von Geschlecht: Beispiel Pharmakologie

Geschlecht, Gesundheit und Gesundheitsversorgung sind in vielfacher Hinsicht miteinander verknüpft.

In der Medizin wird Geschlecht oftmals primär biologisch betrachtet. Biologische Körperlichkeit steht in einem engen Zusammenhang mit Gesundheit und Krankheit, denn diese manifestieren sich im Körper eines Menschen.
Zu bedenken ist, dass das Wissen über die Behandlung von verschiedenen Körperlichkeiten sehr unterschiedlich ausgeprägt ist: Noch heute gilt, dass viele Studien, auch pharmakologische Medikamentenuntersuchungen, mit Männern durchgeführt wurden und sich die Frage stellt, inwiefern diese Ergebnisse auf Frauen und Menschen mit diversen Körpergeschlechtlichkeiten übertragbar sind.
Während Differenzen in der Pharmakotherapie zwischen Männern und Frauen mittlerweile häufiger zumindest in der Theorie berücksichtigt werden (Thürmann et al., 2016), stehen die Forschung und auch die praktische Berücksichtigung weiterer körpergeschlechtlicher Situationen noch sehr am Anfang. (Wolf-Gould / Wolf-Gould, 2020)

So bedürfen zum Beispiel die längerfristigen körperlichen Auswirkungen von Hormontherapien ebenso weiterer Erforschung wie Interaktionen mit anderen Medikamenten oder die Veränderungen von Normwerten verschiedener physiologischer Parameter. Aktuell ist z.B. gelegentlich unklar, welcher Referenzbereich bei Laborwerten sinnvollerweise bei trans Personen mit Hormontherapie angewendet werden kann.

Geschlecht und Gesundheitsversorgung

Auch alle weiteren Aspekte von Geschlecht jenseits der unmittelbaren körperlichen Situation sind für Gesundheit und Gesundheitsversorgung von Bedeutung. Wie Menschen die Gesundheitsversorgung für sich in Anspruch nehmen und wie ihnen dort begegnet wird, hängt auch von ihrem Geschlecht ab. Studien haben zudem gezeigt, dass es auch vom Geschlecht der Behandler*in abhängt, welche Versorgung Menschen erfahren.

Geschlechtersensible Gesundheitsversorgung bedeutet konsequenterweise, sich nicht nur mit Geschlecht und geschlechtlicher Diversität der Patient*innen und Klient*innen zu befassen, sondern auch damit, inwiefern die eigene Geschlechterprägung eine Auswirkung auf die Versorgung hat oder haben könnte.

Welche Bedeutung hat Geschlechtlichkeit in der Gesundheitsversorgung?

Eine Medizinstudierende wirft Fragen auf, die sich Fachkräften in der konkreten Versorgungssituation hinsichtlich geschlechtlicher Verschiedenheiten stellen können.

Zugang zur Gesundheitsversorgung

Dem Bedarf an Gesundheitsversorgung einer Bevölkerung steht ein Angebot gegenüber, das diesem Bedarf mehr oder weniger gerecht wird. Das komplexe Thema, inwiefern Menschen in ihrer jeweiligen Bedarfssituation dann eine entsprechende Versorgungsleistung in Anspruch nehmen (können), wird als Zugang zur Gesundheitsversorgung bezeichnet.

Der Zugang zur Gesundheitsversorgung wird in Deutschland im Allgemeinen als „gut“ angesehen (OECD / European Observatory, 2021).
Vor der Covid-19-Pandemie berichteten 0,3 % der Bevölkerung, dass sie Versorgungsleistungen benötigt, jedoch nicht erhalten hätten. Hier zeigte sich, dass insbesondere Menschen mit geringerem Einkommen betroffen waren. Im Verlauf der Covid-19-Pandemie stieg der Anteil in der Bevölkerung auf 14 %, die nicht die erforderliche Versorgung erfahren hatten (Eurofound, 2021). Erfasst wurden hier insbesondere finanzielle Barrieren, fehlende lokale Erreichbarkeit (geographische Barrieren) und Wartelisten, die dazu führten, dass Menschen keine bedarfsgerechte Versorgung erhielten.

Soziale Situation und Versorgungszugang

Der Zugang zur Gesundheitsversorgung ist abhängig von verschiedenen sozialen Faktoren. Schon erwähnt wurde das Einkommen, das einen wichtigen Einflussfaktor darstellt. Menschen mit höherem und hohem Einkommen erleben weniger Barrieren im Versorgungszugang als Menschen mit geringerem Einkommen.

Dies liegt zum einen an den Möglichkeiten, im Bedarfsfall auch Leistungen selbst bezahlen zu können. Dies spielt insbesondere beim schnelleren Zugang zu psychotherapeutischer Versorgung eine Rolle, bei der die Wartezeiten für kassenfinanzierte Behandlungsplätze sehr lang sein können. Zum anderen ist es so, dass Menschen mit höheren Einkommen auch eher privat oder zusatzversichert sind, was es ebenfalls in manchen Bereichen erleichtert, zeitnah eine Behandlung zu finden.

Als besonders schwierig gestaltet sich der Versorgungszugang für diejenigen in Deutschland, die nicht krankenversichert sind und auch nicht über die finanziellen Mittel verfügen, selbst zu zahlen. Obwohl es in Deutschland obligatorisch ist, über eine Krankenversicherung zu verfügen, wird der Anteil der Nicht-Versicherten mit legalem Aufenthaltsstatus auf 0,1 % der Bevölkerung geschätzt. OECD / European Observatory, 2021).

Hinzu kommen Menschen im Asylverfahren oder mit Duldungsstatus, denen nur eine reduzierte Basisversorgung finanziert wird. Auch die meisten Personen, die in Deutschland ohne legalen Aufenthalt leben, haben es schwer, Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen zu können, wenn sie diese benötigen.

Geschlecht und Versorgungszugang

Auch die verschiedenen Aspekte von Geschlecht wirken sich auf den Zugang zur Gesundheitsversorgung aus.
Der Bedarf gestaltet sich in Abhängigkeit von der körpergeschlechtlichen Situation unterschiedlich. Je nachdem, ob ein Mensch eine Cervix (Gebärmutterhals) oder eine Prostata hat oder nicht, benötigt diese Person beispielsweise Zugang zu unterschiedlichen Angeboten der Krebsfrüherkennung.

Auch aufgrund von sozialen Faktoren sind Menschen verschiedener Geschlechtergruppen unterschiedlich von bestimmten Erkrankungen betroffen. Ein prägnantes Beispiel sind hier Erkrankungen, die von Arbeitsbedingungen oder vom persönlichen Gesundheitsverhalten mitverursacht werden. Da die Berufswahl in Deutschland immer noch stark von Prozessen der geschlechtsspezifischen Sozialisation und Geschlechterrollenzuweisungen in der Gesellschaft beeinflusst wird, existieren Berufe, die häufiger von Männern bzw. häufiger von Frauen ausgeübt werden. Demzufolge sind dann auch berufsbedingte Erkrankungen verschieden verteilt.

Ähnliches gilt für Erkrankungen, die von Zigarettenrauchen (mit)verursacht werden, wie bestimmte Herz-Kreislauf- und Gefäßerkrankungen oder bestimmte Krebserkrankungen.

Diskriminierung und antizipierte Diskriminierung als Zugangsbarriere

Die Bundesantidiskriminierungsstelle hat Diskriminierung und befürchtete (antizipierte) Diskriminierung als eine Barriere beschrieben, die den Zugang zu bedarfsgerechter Versorgung erschweren kann (Bartig et al., 2021).

Erlebte und antizipierte Diskriminierung trägt zu Gesundheitsverhalten bei, das als Vermeidung und „delay of care“ bezeichnet wird: Sogar im akuten Bedarfsfall verzögern oder vermeiden Menschen, sich behandeln zu lassen, um sich vor (potentiell) diskriminierenden Situationen zu schützen.


Abbildung: Barrieren im Versorgungszugang [Dennert, 2022 auf der inhaltlichen Grundlage von: Norris/Aiken, 2006; Wörz, 2006]

Welche Rolle spielt die Gesellschaft in dem, wie wir über Geschlecht nachdenken?

Menschen erleben ihr Geschlecht in sich selbst und in gesellschaftlicher Interaktion. Ihre Geschichte mit sich selbst, der Gesellschaft und mit Geschlecht bringen sie in die Gesundheitsversorgung mit.

Was denken Sie zu folgender Frage?

Wie bedeutsam ist Geschlecht in Ihrem Arbeitsfeld – Ihr eigenes Geschlecht und das derjenigen, mit denen Sie zusammenarbeiten und derjenigen, die Sie versorgen?

Bitte schieben Sie den Regler auf die für Sie passende Position. Sie können die Lerneinheit nur abschließen, wenn Sie den Regler bewegt haben.


Was denken Sie zu folgender Frage?

Fühlen Sie sich ausreichend vorbereitet und ausgebildet, um der Bedeutung von Geschlecht in Ihrem Arbeitsfeld gerecht zu werden?

Bitte schieben Sie den Regler auf die für Sie passende Position. Sie können die Lerneinheit nur abschließen, wenn Sie den Regler bewegt haben.


Frauengesundheitsbewegung als Ausgangspunkt

Die Frauengesundheitsforschung und Frauengesundheitspraxis reicht in Deutschland bis in die 1970er Jahre zurück. Innerhalb der Frauenbewegung in der damaligen BRD wurden viele Praktiken, die Frauen betrafen, als auf ihren Körper bezogene Politiken analysiert und kritisiert.
So waren von Beginn der sogenannten Neuen Frauenbewegung an die Beschäftigung mit dem Abtreibungsparagrafen §218, Gewalt gegen Frauen und Sexualität zentrale Themen. (Helfferich, 1994)

Es entstanden erste Frauengesundheitszentren in Deutschland. Ab 1980 griffen Forscherinnen das Thema Frauengesundheit auch zunehmend in den Universitäten auf. Im Jahr 2001 erschien der erste offizielle „Bericht zur gesundheitlichen Lage von Frauen“ in Deutschland.

Entwicklungen hin zu „Geschlecht und Gesundheit“

In den darauffolgenden Jahren und Jahrzehnten hat sich das Arbeits- und Forschungsfeld konsolidiert und weiterentwickelt. Die Bezeichnung „Geschlecht und Gesundheit“ hat sich in der Forschung etabliert und macht deutlich, dass geschlechtsspezifische und geschlechtergerechte Versorgung eine wichtige Frage für Menschen aller Geschlechter darstellt.

Während zunächst ein binäres Geschlechterverständnis von Mann und Frau verbreitet war, differenziert sich in den letzten Jahren auch zunehmend die Auffassung dessen aus, was unter Geschlecht eigentlich zu verstehen sei. Es werden mehr als zwei Geschlechtergruppen in den Blick genommen und auch die Heterogenitäten innerhalb von Geschlechtergruppen werden genauer betrachtet. (Kolip / Hurrelmann, 2016)

Welche Bedeutung hat Geschlecht in der Medizin?

In der Medizin und in der Forschung verändert sich das Verständnis von Geschlecht.

Geschlecht und weitere Faktoren sind bedeutsam für die Gesundheit und die Gesundheitsversorgung. Dies gilt für alle Menschen, völlig unabhängig davon, welcher Geschlechtergruppe sie in der Gesellschaft angehören.

Die Frauengesundheitsbewegung hat die Gesundheit von Frauen seit den 1970er Jahren zum Thema gemacht. Erst in den letzten Jahren beginnen Medizin und die weiteren Disziplinen im Gesundheitswesen, sich mehr mit der Situation von geschlechtlichen Minderheiten zu befassen.

Lernziele:

  1. Geschlecht ist relevant für den Zugang zu Leistungen der Gesundheitsversorgung.
  2. Geschlecht beeinflusst die Qualität der Versorgung.
  3. Die Akzeptanz von geschlechtlicher Heterogenität ist eine Voraussetzung für eine bestmögliche Gesundheitsversorgung.

Bartig, Susanne/Kalkum, Dorina/Le, Ha Mi/Lewicki, Aleksandra (2021): Diskriminierungsrisiken und Diskriminierungsschutz im Gesundheitswesen. Wissensstand und Forschungsbedarf für die Antidiskriminierungsforschung. Studie im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Berlin.

Dennert, Gabriele (2022): Barrieren im Zugang zur Gesundheitsversorgung. Vortrag, Fachhochschule Dortmund.

Living, working and COVID-19 (Update April 2021): Mental health and trust decline across EU as pandemic enters another year (2021).

Helfferich, C. (1994): Quo vadis, Frauengesundheitsforschung? Warum es so nicht weitergeht, warum es weitergeht und wie es weitergehen könnte. In: Zeitschrift für Frauenforschung 12, H. 4, S. 7–19.

Kolip, Petra/Hurrelmann, Klaus (2016): Geschlecht und Gesundheit: eine Einführung. In: Kolip, Petra/Hurrelmann, Klaus (Hrsg.): Handbuch Geschlecht und Gesundheit. Männer und Frauen im Vergleich. 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Bern: Hogrefe. S. 8–17.

Norris, T. L./Aiken, M. (2006): Personal access to health care: A concept analysis. In: Public Health Nursing 23, H. 1, S. 59–66.

OECD / European Observatory on Health Systems and Policies (2021): Germany: Country Health Profile 2021. Paris.

Schwartz, Friedrich W./Busse, Reinhard (2012): Denken in Zusammenhängen: Gesundheitssystemforschung. In: Schwartz, Friedrich Wilhelm/Walter, U./Siegrist, J./Kolip, P./Leidl, R./Dierks, M. L./Busse, R./Schneider, N. (Hrsg.): Public Health. Gesundheit und Gesundheitswesen. 3., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. München: Urban & Fischer. S. 555–582.

Thürmann, Petra A./Janhsen, Katrin/Selke, Gisbert W. (2016): Geschlechteraspekte in der Pharmakotherapie. In: Kolip, Petra/Hurrelmann, Klaus (Hrsg.): Handbuch Geschlecht und Gesundheit. Männer und Frauen im Vergleich. 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Bern: Hogrefe. S. 325–337.

Wolf-Gould, Christopher/Wolf-Gould, Carolyn (2020): Primary and Preventative Care for Transgender Patients. In: Ferrando, Cecile A. (Hrsg.): Comprehensive Care of the Transgender Patient. Philadelphia: Elsevier. S. 114–130.

Wörz, Markus (2006): Access to health care in the EU Member States. In: Euro Observer 8, H. 2, S. 1–4.