Lernpfad 1: Basiswissen
Geschlecht und Gesundheit

Lernmodul 1: Was ist Geschlecht?

Bearbeitung ca. 15-20 Min.


Geschlecht ist eine bedeutende Kategorie in der Gesundheitsversorgung. Sie und Ihre Kolleg*innen möchten die Patient*innen und Klient*innen bestmöglich versorgen. Hierbei hilft es, wenn Sie sich mit einigen Aspekten von Geschlecht und Gesundheit beschäftigen. Dieses Lernmodul bietet eine Einführung in verschiedene Blickwinkel auf „Geschlecht“ und die Bedeutung von „Geschlecht“ in der gesundheitlichen Versorgung.

Lernziele:

  1. Geschlecht ist eine wichtige Kategorie in der Gesund­heitsver­sorgung.
  2. Geschlecht ist ein sozialer Begriff, in den biologische Aspekte und ihr soziales Verständnis sowie die gesellschaftlichen Verhältnisse eingehen.
  3. Geschlecht ist ein komplexes Konzept, zu dem es verschiedene Ansichten gibt.

Was denken Sie zu folgender Aussage?

Die Zuordnung von Menschen zu Geschlechtern erleichtert mir die Arbeit in der medizinischen bzw. psychotherapeutischen Praxis.

Bitte schieben Sie den Regler auf die für Sie passende Position. Sie können die Lerneinheit nur abschließen, wenn Sie den Regler bewegt haben.

Nachdenken über Geschlecht kann ungewohnt sein

Viele Menschen sehen Geschlecht als etwas Selbstverständliches an. Es kann ungewohnt sein, darüber nachzudenken und dabei vielleicht auch einiges in Frage zu stellen, was bisher selbsterklärend erschien. Die Medizinsoziologin Judith Lorber (1999: 55) prägte das Bild, dass ein Nachdenken über Geschlecht so sei, als würden Fische über das Wasser nachdenken: Es erfordert eine Beschäftigung mit dem, was uns immer umgibt und doch oft unsichtbar oder nicht gut erkennbar bleibt.
In der Medizin spielt häufig der Körper von Menschen eine besondere Rolle, zum Beispiel wenn es um die Behandlung von körperlichen Erkrankungen geht. Hier kann es hilfreich und auch notwendig sein, Patient*innen und Klient*innen bestimmten Kategorien oder Gruppen zuzuordnen, um schnell und effizient arbeiten zu können. Geschlecht ist eine dieser Kategorien, die in der Gesundheitsversorgung von besonderer Bedeutung ist.
Die medizinische Versorgung denkt zumeist in zwei geschlechtlichen Ausprägungen: „weiblich“ und „männlich“. Schon wenn Kinder auf die Welt kommen, wird anhand der sichtbaren äußeren Genitalien eine Zuordnung vorgenommen, ob das Kind ein „Mädchen“ oder ein „Junge“ sei, damit ein entsprechender Eintrag im Personenstandsregister und auch eine entsprechende Wahl des Vornamens erfolgen kann. Die Vorstellung, welches Geschlecht ein Mensch hat, basiert hier auf der Einteilung aufgrund biologischer Kriterien, also körperlicher Merkmale eines Menschen.

Zuordnung zu Geschlechtern geschieht im Alltag häufig unbewusst

Im Alltag schließen wir dann in der Regel auf der Grundlage dessen, wie wir unser Gegenüber wahrnehmen, darauf, welcher Geschlechtergruppe wir eine Person zuordnen: Ist die Stimme höher oder tiefer? Wie sind das Aussehen, Frisur, Kleidung, Gesichtszüge oder die Körperhaltung? Nehmen wir das Oberkörperprofil als eher flach wahr oder sind Brüste erkennbar? Diese Zuordnung geschieht zumeist unbewusst, schnell und automatisch in unseren Köpfen.
Auf der Grundlage dieser Zuordnung schließen wir dann oftmals darauf, wie wir erwarten, dass der Körper eines Menschen aussieht: Bei Mädchen und Frauen erwarten wir, dass Vulva, Vagina, Ovarien und Uterus vorhanden sind – bei Jungen und Männern gehen wir davon aus, dass der Mensch Penis, Hodensack und Hoden hat. Auch hinsichtlich der körperlichen Funktionen bestehen häufig Vorannahmen, zum Beispiel, dass Frauen ab der Pubertät bis zur Menopause menstruieren – und Männer dies nicht tun. Deshalb finden sich in Frauentoiletten zumeist Entsorgungsstationen für Hygieneprodukte und auf Männertoiletten nicht. Dafür wiederum finden sich in Männertoiletten Pissoirs, weil davon ausgegangen wird, dass Männer im Stehen urinieren – und Frauen eben nicht.

Vorannahmen über das Geschlecht können unzutreffend sein

Schon für Menschen, deren angeborene körperliche Situation eindeutig den Kriterien von „männlich“ oder „weiblich“ entspricht, können diese Vorannahmen unzutreffend sein: So wird zum Beispiel die Menstruationsblutung von vielen psychischen und auch körperlichen Faktoren (Sport z.B.) beeinflusst und kann sehr variabel ausgeprägt sein. Oder Menschen verlieren Organe im Rahmen von Erkrankungen oder Unfällen.

Zuordnung zu Geschlechterkategorien kann Hindernis in der Versorgung sein

In der Gesundheitsversorgung kann die nahezu automatische und unbewusste Zuordnung von Menschen in Geschlechterkategorien ein Hindernis für eine optimale Versorgung darstellen. Manche Menschen kann diese Einsortierung verletzen, wenn sie sich selbst anders fühlen und verstehen oder ihre körperliche Situation eine Variation aufweist. So zum Beispiel intergeschlechtliche Menschen oder transgeschlechtliche Menschen. Die Vorannahmen in Bezug auf Geschlecht können auch zu Fehlern in Diagnostik und Behandlung führen. So berichtet das New England Journal of Medicine (Stroumsa et al. 2019) vom Fall einer männlich wirkenden Person mit Unterbauchschmerzen in der Notaufnahme: Von den behandelnden Gesundheitsfachkräften wurde nicht erkannt, dass es sich um eine Schwangerschaftskomplikation handelte. Der Fötus verstarb, und das Geschehen beeinträchtigte die psychische Gesundheit des betroffenen trans Mannes deutlich.

Wie lässt sich über Geschlecht nachdenken?

Geschlecht als Oberbegriff

Die Bedeutung des Begriffes „Geschlecht“ ist immer wieder Gegenstand gesellschaftlicher Diskussionen. Der Begriff wird teilweise sehr unterschiedlich gefüllt.
In diesem Fortbildungsangebot wird Geschlecht als Oberbegriff über verschiedene körperliche und soziale Dimensionen und Aspekte verwendet. Im Zuge der Frauenbewegungen und der feministischen sozialen Bewegungen wurde die Kategorie Geschlecht als soziale Kategorie analysiert und als rein biologische Kategorie in Frage gestellt. Die Frage, welchem Geschlecht Personen zugeordnet werden und wie sie darin wahrgenommen werden, hat lebenslange Konsequenzen für ihre gesellschaftliche Situation und die Anforderungen, die an sie als Personen gestellt werden. Geschlecht wurde deshalb auch als „sozialer Platzanweiser“ beschrieben. Die Rollen und Plätze, die Menschen in der Gesellschaft einnehmen, sind nicht von der Natur durch das Geschlecht – oder andere Kriterien – vorgegeben, sondern sind gesellschaftlich gestaltet und hergestellt. Dadurch sind sie auch gesellschaftlich veränderbar.

Körper und Geschlecht

Körperliche Aspekte spielen eine wichtige Rolle in den Diskussionen um Geschlecht. Alle Menschen existieren und leben mit ihren Körpern in einer Gesellschaft. So wird die körperliche Situation von Menschen oft von Dritten dazu herangezogen, Menschen einer Geschlechtergruppe zuzuordnen. Und gleichzeitig wird die Zuordnung zu einer Geschlechtergruppe gesellschaftlich genutzt, um Vorannahmen oder auch Vorgaben hinsichtlich der Körperlichkeit von Menschen zu formulieren. Körperliche und soziale Aspekte und Dimensionen von Geschlecht sollten deshalb nicht getrennt voneinander gedacht werden.

Intergeschlechtlichkeit

Neben dem, was medizinisch als weiblicher oder männlicher Körper angesehen wird, gibt es Variationen der geschlechtskörperlichen Entwicklung. Diese körperliche Situation wird als Intergeschlechtlichkeit bezeichnet. Viele Menschen, die mit einem intergeschlechtlichen Körper geboren werden, machen die Erfahrungen, dass das existierende Spektrum von Körperlichkeiten jenseits von „weiblich“ und „männlich“ auch Gesundheitsfachkräften nicht unbedingt bekannt ist.
Der Begriff Intergeschlechtlichkeit bezieht sich also auf eine angeborene Variation der geschlechtskörperlichen Entwicklung, manchmal auch als Variationen der Geschlechtsmerkmale bezeichnet (OII Europe 2016). Es existiert keine einheitliche Definition davon, welche körpergeschlechtlichen Variationen als intergeschlechtlich aufgefasst werden und welche nicht. Die Begriffe und ihre Bedeutungen verändern sich in der Gesellschaft – und damit auch in der Medizin und der Gesundheitsversorgung.

Transgeschlechtlichkeit

Transgeschlechtlichkeit meint, wenn sich Menschen nicht dem Geschlecht zugehörig fühlen, dem sie nach der Geburt zugeordnet wurden, und sich zudem selbst im breiten Spektrum der Selbstbezeichnungen „trans“ / „transgeschlechtlich“ / „transident“ / „transsexuell“ / „transgender“ verorten. Auch hier werden die Begriffe unterschiedlich gefüllt und verwendet.
Der Begriff Transgeschlechtlichkeit bezieht sich also auf die Selbstbezeichnung hinsichtlich der eigenen, individuellen Geschlechtswahrnehmung.

Inter* und trans

Es ist möglich, gleichzeitig inter* und trans zu sein: Einige Menschen mit einer körpergeschlechtlichen Variation bezeichnen sich selbst gleichzeitig als trans.

Welche Rolle spielt Körper für Geschlecht?

Körperliche und soziale Aspekte von Geschlecht sind miteinander verwoben.

Bitte setzen Sie sich mit den folgenden Fragen aus­ein­ander.

Welche Bedeutung hat Geschlecht in Ihrem Tätigkeitsgebiet in der Gesund­heits­versor­gung? Welche sozialen und körperlichen Aspekte von Geschlecht sehen Sie als relevant für Ihr Tätig­keits­gebiet an?
Bitte klicken Sie auf „Weiter“, wenn Sie sich mit den Fragen auseinandergesetzt haben.

Geschlechtliche Heterogenität in der medizinischen Versorgung

Als geschlechtliche Heterogenität wird der Umstand bezeichnet, dass es im Spektrum der Geschlechtlichkeiten und Geschlechter mehr als zwei vermeintlich eindeutige Möglichkeiten gibt.

Insbesondere intergeschlechtliche Menschen erleben, dass ihre angeborenen körperlichen Merkmale vielfach noch nicht als normale und gesunde Variationen der körpergeschlechtlichen Entwicklung betrachtet werden. Häufig wird ihre körperliche Situation als Abweichung von der „normalen Entwicklung“ oder als „Störung“ angesehen. Viele Menschen in der Gesellschaft wissen wenig über die Erfahrungen und Lebenssituationen von inter* Personen. Vielleicht denken etliche Fachkräfte, dass sie noch nie einer inter* Person begegnet sind – was stimmen kann, aber nicht muss.

Durch die Veränderungen im Personenstandsrecht mit der Option „divers“ und der verstärkten gesellschaftlichen Wahrnehmung der Lebenssituation von inter* Menschen werden sie künftig auch in der Gesundheitsversorgung sichtbarer, sowohl als Patient*innen und Klient*innen als auch als Fachkräfte im Gesundheitswesen.

Auch die Wahrnehmung der Lebenssituation transgeschlechtlicher und anderer nicht-geschlechtskonform lebender Menschen hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Viele Menschen werden sich bewusst, dass die Selbstbezeichnung und Selbstwahrnehmung des eigenen Geschlechts sich im Laufe des Lebens ändern kann. Und sie kann von dem abweichen, wie Menschen von Dritten betrachtet werden oder wie ihr geschlechtlicher Eintrag im Personenstandsregister lautet.

Viele Gesundheitsfachkräfte wünschen sich mehr Wissen über die gesellschaftliche Situation von inter* und trans Personen, um ihr eigenes Handeln noch akzeptierender gestalten zu können.

Geschlecht als „sex“ und „gender“ in der Gesundheitsversorgung

In der Gesundheitsversorgung sind körperliche und soziale Aspekte von Geschlecht relevant.

Wie wird körperliches Geschlecht in der Medizin definiert?

Körperliches Geschlecht umfasst in der Medizin verschiedene körperliche Aspekte, z.B. die hormonelle oder chromosomale Situation oder die Ausprägung der inneren und äußeren Genitalien.

Geschlecht umgibt uns, wie Fische von Wasser umgeben sind (Lorber 1999: 55): Wir leben in einer zumeist zweigeschlechtlich strukturierten Gesellschaft. Gerade weil Geschlechterverhältnisse fast allgegenwärtig sind, kann es manchmal schwierig erscheinen und Energie erfordern, sich bewusst damit zu befassen.
Für Menschen aller Geschlechter ist es wichtig, in der Gesundheitsversorgung kompetent und respektvoll behandelt zu werden.

Lernziele:

  1. Geschlecht ist eine wichtige Kategorie in der Gesund­heitsver­sorgung.
  2. Geschlecht ist ein sozialer Begriff, in den biologische Aspekte und ihr soziales Verständnis sowie die gesellschaftlichen Verhältnisse eingehen.
  3. Geschlecht ist ein komplexes Konzept, zu dem es verschiedene Ansichten gibt.

Lorber, Judith (1999): Gender-Paradoxien. Aus dem Englischen übersetzt von Hella Beuster. Redaktion und Einleitung zur deutschen Aufgabe: Ulrike Teubner und Angelika Wetterer. Opladen: Leske & Budrich.

Organisation Intersex International Europe e.V.: „Menschenrechte und Intergeschlechtliche Menschen. Themenpapier“. ULR: https://oiigermany.org/wp-content/uploads/2017/02/COHR_DE_INTER.pdf (Abfrage 18.01.2023).

Stroumsa, Daphna/Roberts, Elizabeth F. S./Kinnear, Hadrian/Harris, Lisa H. (2019): The Power and Limits of Classification – A 32-Year-Old Man with Abdominal Pain. In: The New England journal of medicine 380, H. 20, S. 1885–1888.